Gisbert Kranz an seine Eltern, 31. März 1946

29. April

31.III.46. Meine lieben Eltern! Amtlich wurde uns mitgeteilt, daß man noch nicht daran denkt, die deutschen PoW. zu entlassen. Nur Arbeitsunfähige und ein Teil der Antinazi werden entlassen. Ich rechne nicht damit, dieses Jahr noch Euch zu sehen, da ich weder „arbeitsunfähig“ noch „Antinazi“ bin. Als „Antinazi“ werden nur die bezeichnet, die schon vor 1933 politisch aktiv gewesen sind. Ich bin als „Nicht-Nazi“ registriert. – Mit jedem Tage wächst meine Sehnsucht heimzukehren, doch jeder Tag bringt mich der Erfüllung dieses Wunsches auch näher. Fassen wir uns also in Geduld. – Die Zeit der Gefangenschaft ist nicht verloren. Ich habe die engl. Sprache erlernt und vervollkommne mich täglich mehr darin. Ich habe die Geschichte der engl. und der deutschen Literatur studiert, habe mich mit Kunstgeschichte und Astronomie beschäftigt und lerne jetzt wieder Philosophie. Außerdem habe ich manch Wertvolles gelesen, u. a. noch einmal sämtl. Werke Schillers u. Hölderlins. Da ich bei Konzerten u. sonst als Rezitator aufgetreten bin, habe ich in der Gefangenschaft wohl 50 Gedichte auswendig gelernt. Von meiner eigenen Produktion schrieb ich Euch schon. – Ihr seht also, daß mein Geist hier nicht versumpft. Und daß mein Körper stark und gesund bleibt, dafür sorgt die körperliche Arbeit. Ich schlafe tägl. 8 Stunden, überspanne also keineswegs meine Kräfte. – Auf einer Karte schicke ich Euch einige Verse, die mir vor einiger Zeit ein Kamerad in Kunstschrift geschrieben zusammen mit einem selbstgebastelten und mit meinem Monogramm versehenen Zigarettenetui schenkte. Ihr seht daraus, daß auch unser Humor noch nicht tot ist. – Herzl. Grüße Gisb.