Karl-Heinz Kranz an Bruder Gisbert, 23. Juni 1944
Essen-Steele, den 23.6.44
Lieber Gisbert!
Als ich vorige Tage die „Feldpost der Heimat“ durchsah, war ich nicht wenig überrascht, Dein Gedicht „Jugend“ dort zu finden. Mich wundert, daß man es annahm, denn man spürt doch zu deutlich, aus welchem Geist heraus es geschrieben wurde. – Dein Bücherpäckchen kam gestern an. – Anbei lege ich einen Zettel „Unsere Dorfplanung“. Im Kreis existiert der Gedanke eines Idealdorfes, das wir bauen wollen. Nun haben wir schon mal die Posten verteilt. Vielleicht schreibst Du uns, welches Amt Du bekleiden oder welche Rolle Du spielen willst. Der „freischaffende Künstler“ hat an gewissen Örtchen Herzen auszuschnitzen! – Philipp Dürfeld soll ein Bein amputiert bekommen haben. Ich hoffe, von Hans Schocke, der auf seiner Fahrt nach Breslau, wo sein neues Betätigungsfeld (Evakuiertenseelsorge) ist, Philipp im Lazarett besucht, etwas genaueres über sein Befinden zu hören. Bisher hat er uns nämlich alle im Unklaren gelassen über die Art und Schwere seiner Verwundung. – Wie ich mich als Juniorchef fühle? Sauwohl! Ich hielte es noch lange aus. Günters Anschrift (L 542 55 Nürnberg) sandte ich Dir vor einiger Zeit schon auf einer Postkarte. – In diesem Urlaub las ich von E.T.A. Hoffmann „Die Elixiere des Teufels“. Es ist ein phantastischer Roman. Auf welchem Gebiete
betätigte sich Hoffmann sonst? Es ist ja sein einziger Roman gewesen, die Elixiere. – Dann las ich Goethes Werther (Urschrift) und Rilkes Briefe an einen jungen Dichter. Etwas habe ich mich also auch mit der Dichtung befaßt. – Ich glaube, ich habe allmählich genug geschrieben.
Dir einen frohen Gruß,
Dein Karl Heinz
Lieber Gisbert! Auch ich sende Dir recht herzliche Grüße. Deine lb. Zeilen vom 14.J. schickten wir Vater zu. Du hast ja schon wieder ein Gedicht gemacht! Soeben las ich in der Zeitung, daß man bis auf Weiteres nur 20 gr. zum Westen schicken darf auch keine Ztg. mehr. Schade! Ich habe gerade leckere Plätzchen gebacken und wollte Dir eine 100 gr. Probe davon schicken. Nun geht das auch nicht mal.
Karlheinz will nämlich Abschied feiern am Sonntag Abend und kommt ein ganzer „Damenflor“ nach hier. Da muß ich doch was „süßes“ stiften.
Mir geht es besser, doch bin ich immer noch nicht ganz wohl. Na, es wird schon kommen. Die Aussichten auf eine ständige Hilfe werden immer geringer, da alles in die Rüstungsbetriebe gesteckt wird. Emmi hat heute putzen geholfen und bin ich nun für 8 Tage wieder „Alleinmädchen“. Montag muß ich Stilmus u. Stachelbeeren einmachen. Gerade kommt Fritz. Er wird am 15.7. entlassen bei der [.?.] u. am 10.8. zum Arbeitsdienst eingezogen. Wenn eben möglich will ich mit ihm noch für 8-14 Tage nach Wakenfeld fahren. Bin mal gespannt, ob Karlhz. Nachurlaub bekommt. Morgen ruft er mal nach Paderb. an. Recht herzl. Gruß u. Kuß D. Mutter.
Emmi heißt Frau Abts.
„Die slawische Literatur, besonders die russische, weisen in neuerer Zeit mehrere mächtige, dichterische Persönlichkeiten auf, die auf das europäische Schrifttum einen bedeutenden Einfluß ausübten, namentlich durch ihre Kunst meisterhafter Realität und ihre feine Psychologie. Leider haftet fast allen Schöpfungen der slawischen Dichter die innere Unruhe ihrer Länder an, es spricht aus ihnen oft eine große Lebensmüdigkeit oder eine maßlos radikale Sucht nach Reformen. Einige Dichter, namentlich Dostojewski, Tolstoi, Gogol haben durch ihre tief in das Seelenleben hereingreifende Darstellung und durch ihre Kraft der unmittelbaren Empfindung der heutigen Welt neue Wege der Kunst gewiesen. In Tolstoi gehen die geistigen Bewegungen des modernen Rußlands wie in einem Brennpunkt zusammen. Mit hinreißender Kraft der Darstellung hat er die Not des russischen Volkes, die Verwilderung seiner führenden Kreise und die religiöse
Unsicherheit seiner aufstrebenden Jugend geschildert. Seine Hauptwerke „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“ und „Auferstehung“ waren wegen ihrer verworrenen Anschauungen über das Christentum für das katholische Volk nicht brauchbar; dagegen sind unter seinen kleineren Erzählungen und Skizzen Prachtstücke edler Erzählungskunst, z. B. „Kindheit und Knabenalter“, „Volkserzählungen“, „Sewastopol“, „Herr und Knecht“, „Der Morgen des Gutsherren“.“
Diese Zeilen fand ich in der Borromäusbücherei in einem Buche Tolstois mit der Hand auf die erste Seite geschrieben. Vielleicht interessieren sie Dich.
Lieber Gisbert!
Bin gerade für ein Stündchen nach Hause gekommen.
Schreibe Dir nächstens mehr.
Herzliche Grüße Fritz.