Irmgard Vogt an Willi Büse, 10. Juni 1941
Sudauen, d. 10.6.41
Gott zum Gruß, Willi!
Für Deinen langen Brief aus der Heimat habe recht vielen Dank. Wenn es immer etwas dauert, ehe ich antworte, müßt Ihr das schonmal entschuldigen, denn man kommt hier beinahe zu nichts.
Zuerst muß ich Dir mitteilen, daß ich meinen "alten" Ort schon wieder verlassen habe - aufgrund höherer Gewalt. Mit Sack und Pack habe ich eine 4 stündige Fahrt mit dem Pferdefuhrwerk gegen eine fürchterlichen Sandsturm hinter mir. (In Afrika könnte er kaum schlimmer sein!)
Die Nachricht von meinem 'Stellungswechsel" kam ausgerechnet vor den Pfingsttagen, und da gab es Laufereien und Fahrereien wie Du Dir denken kannst. (hier bei den Reiseausführungen? im-
mer mit doppelten Schwierigkeiten verknüpft.) So kam es, daß ich nicht einmal Zeit und Gelegenheit fand Euch in Steele einen Pfingstgruß zu schicken -.
Aber Pfingsten dauert ja an. Spüren wir nicht überall den Schöpfergeist, "Gottes lebendigen Atem in der Welt?" "Der Pfingsttag kennt keinen Abend", steht auf dem Tabernakel zu Marienthal!
Auch für mich sollte es hier noch im Vollsinne Pfingsten werden.
Draußen blühte die Natur wie eigens zum Fest. (Es war hier über Nacht Sommer geworden; einen eigentlichen Frühling gab es gar nicht) - Alles war voll Vorahnung zum Pfingstfest... - u. ich dachte an Feiertage ohne ein h. Opfer.
Der Geist ruft wo er will. So bekam ich am Samstag vor Pfingsten von der kathol. Diaspora-Kuratin eine Nachricht, daß in Ragnit in einer kleinen Kapelle das
hl. Opfer am 1. Pfingstfeuertag dargebracht würde u. ich herzlich dazu eingeladen sei. - Da habe ich dann noch am Abend meine Route für den kommenden Tag festgelegt. Ich war am Pfingstsonntag 50 km auf dem Rad durch die herrliche blühende Ebene des Memelstrandes, begleitet vom Vogelkonzert u. Einsamkeit u ersten Frühlicht?.
In der hl Messe waren tewa ein Dutzend Zivilpersonen u. im übrigen nur Soldaten. Und eine gute Predigt haben wir gehört. Dann war ich den ganzen Tag fast im Pfarrhause, das hier natürlich viel persönlicher u. privater anmutet als bei uns. (Vielleicht auch, Weil der Pfarrer ganz in Zivil geht; das kennt man hier nicht anders.) Zuerst wollte kein rechtes Gespräch in Gang kommen. Vielmehr stand die Musik im Vordergrund. Über Kirkognask(?) "Entweder-Oder", das eine feine Abhandlung über den Don Juan bringt, waren wir auf Mozart gekommen, u. ich hatte bald heraus, daß der Pfarrer ein großer Musik-
freund ist. Der Vormittag ging dann auch ganz mit Vorspielen hin. Anfangs dachte ich einen Menschen vor mir zu haben, der zum Ästheten neigt, - aber dann mußte ich erkennen, daß solche Nur- Ästheten in solcher Diasporahärte gar nicht groß werden können, denn dazu erfordert das Leben hier in geistiger u. körperlicher Beziehung zuviel tagtägliche schwerste(?), nüchterne(?) Arbeit. (Von den Entfernungen hier u. den schlechten schlechten Wegen macht man sich daheim keine Vorstellung.) - Am Nachmittag gab es dann noch unverhofften Soldatenbesuch, ein stud. theol. aus Schlesien. Zu schnell hatte der schöne Tag ein Ende. Abends schon mußte der Pfarrer mit dem Rad fort zu einem anderen "Stützpunkt" u. ich selbst konnte dann am 2. Pfingsttag früh meine Rückreise nach Moldau antreten. Kraft genug hatte man für die ganze kommende Woche mitgenommen. - Nach den Feiertagen (die ostpreußische Bevölkerung feiert 3 Pfingsttage!) begann dann meine Sturmfahrt (im wörtlichen Sinn) hierher von Waldau nach ??(Brohere???). In Bezug auf Unterkunft usw. bin ich vom Regen in die Traufe gekommen. In Waldau
hatte ich zwar 4 Wände für mich, außerdem aber auch nur 1 Tisch, einen kaputten Stuhl, (der nur mit Hilfe meines ???kissens zu benutzen war! u. eine Chaise zum Schlafen.
Hier in Brohere(?) nun ist auch alles überwemmt vom Militär. Die Schule ist natürlich auch belegt, aber ich habe wenigstens die Bänke 'retten' können u. sie in einer Scheune aufgestellt. Das gibt bei der augenblicklichen ostpreußischen Witterung oft einen 'stürmischen' Unterricht, da die Scheune nur auf einer Seite verschließbar ist. Was mich selbst betrifft, so komme ich wie schon gesagt, beinahe zu nichts, da ich nirgends ein Fleckchen für mich habe, an dem ich ungestört arbeiten kann. Der vielen Soldaten wegen hat niemand Platz, u. ich habe auch hier bei der Lehrerfrau(?) vorerst nur ein "Notquartier" beziehen können. Ich schlafe auch hier nur auf einer Chaise. Das wäre noch halb so schlimm,
ich wenigstens einen kleinen Raum für mich allein hätte. Aber das ganze Schulhaus liegt wohl voll Mannschaften und Perden. - An den Pferden würdest Du wahre Freude haben. Nachmittags gibt es Gelegenheit, dem schönsten Reit u. Fahrturnier zuzusehen. Überhaupt gibt es überall Gestüte hier in Ostpreußen wie nirgend sonstwo im Reich - und eine herrliche ???. Fast kein Bauernhaus der weiten Steinsiedlungen ist ohne ein ???. Den Flügen?? könnte ich stets zusehen. Wenn Frieden wäre! Es ließe sich gut leben hier. Man könnte hier Wurzeln zu einer neuen Heimat schlagen, zumal zu auch die Spur gefunden ist, die uns im Glauben eint, und die uns immer erst die rechte heimatliche Bindung gibt.
Für die Zukunft werde ich solange
das Wetter gut bleibt, Gast im Pfarrhause zu Ragnit sein, denn von Brohere aus bin ich dann des Sonntags nur 24km auf dem Rade. Das bedeutet für hier schon kaum noch eine Entfernung. Wie gut es ist, daß ich das Rad habe. Ich muß Dir noch recht für Deine Arbeit danken; u. besonders auch noch für die Photos aus der unseren Heimat. Das sind wahrhaft Fäden von einen zum anderen Ende des Reiches.
Hier kommt man immer mehr zu der Erkenntnis, daß unsere religiöse Arbeit dahingehen muß, daß wir alle u. jeder einzelne Diaporareif werden müssen, denn das wird die kommende Situation sein, daß wir trotz aller Vereinzelung aus der Kraft der Gemeinschaft als "Zeugen des Wortes zu leben vermögen". Und wie groß ist diese Gemeinschaft im Grunde! Wie
mancher gehört dazu, den wir kaum kennen. Manchmal genügen einige Stunden der Begegnung. Ich denke an Erwin Graf, Willi Antkowiak, Anni Bleimann usw. Von Erwin kann ich Dir nur soviel schreiben, daß ich weiß, daß er zu uns gehört. Das war Tatchristentum in Berlin! Von Anni Bleimann bekam ich (jetzt erst!) Frühlingsgrüße aus Maria Laach. Da lebten 'unsere' Tage dort an Ostern wieder auf. Es ist eigentlich noch gar nicht solange her. Und wieviel Neues gab es inzwischen für mich!
Wie geht es Euch in Steele? Wart Ihr an Pfingsten in der Heide und wird die Fahrt nach Telgte etwas? Wenn es möglich ist, schickt mir bitte einen "Lasos"(???) her, da Hilde noch welche bekommen hat.
Ich grüße Dich und alles aus der Gemeinschaft
Irmgard