Josef Breuer an Gisbert Kranz, 30. November 1943

Berlin, den 30.11.43.

Lieber Gisbert!

Ich beneide Dich um Deine Fahrt nach Südfrankreich; und ich zweifle nicht daran, daß ein Nest in Frankreich noch viel langweiliger als jedes Kaff in Deutschland ist. Was macht Deine Versetzung? Hast Du Fengers Jupp noch nicht gefunden? Er hat 22316 D.

Nur noch vierzehn Tage, dann ist mein Lehrgang endlich, endlich zu Ende! Wir zählen die Tage wie die Quintaner die Schultage vor den Ferien. Am 17.12. ist mein Reisetag, wohin, weiß ich noch nicht. Nur das ist leider schon sicher: nicht nach Bonn. Damit ist es mir ziemlich gleichgültig geworden, wohin ich versetzt werde, nur nicht nach Nord- oder Ostdeutschland. Nur Bonn war, wie Du weißt, mein heißer Wunsch. Für den letzten Teil des Lehrgangs bin ich noch zu einer Spezialausbildung gekommen für die sogenannte „Abnahme”, d. h. Untersuchung von Gerät u. Munition auf Brauchbarkeit u. richtige Herstellung (das gilt als Auszeichnung).

Die Engländer sorgen dafür, daß uns der Abschied von Berlin nicht schwer fällt. Wir haben einige furchtbare Angriffe mit erlebt. Einige Stadtteile liegen in Trümmern wie Essen, u. a. die Gegend am Zoo, das Café und die Wirtschaft, wo wir damals gesessen haben, zum großen Teil auch die Straßen, durch die wir gegangen sind. Der Verkehr in der S-Bahn ist in den Hauptverkehrsstunden irrsinnig; auf den wichtigsten Bahnhöfen wird er von der Wehrmacht kontrolliert. Aber ich muß sagen: die Berliner tragen es vorbildlich, viel besser als ich gedacht hätte. Ich war nach jedem Großangriff eingesetzt, zum Löschen, Räumen, Instandsetzen. Es ist schrecklich, zu sehen, wie die ganze, oft in Jahrzehnten fleißig erworbene Habe zu einem armseligen Häuflein Asche verbrennt, in wenigen Minuten. Dies Erlebnis macht die Menschen frei für und reif für sonst so Fernliegendes, pflügt die Herzen, macht sie offen und bereit, bis die Zeit, die Gewohnheit sie wieder stumpf macht. Da klang es wundervoll am Sonntag: quia hora est, jam nos de somno surgere. -

Den nächsten Brief schreibe ich von meiner neuen Dienststelle. In der Verbundenheit, die Du meinst -
Dein Jupp.