Josef Breuer an Gisbert Kranz, 20. Mai 1944
Godenau, den 20. Mai 1944.
Lieber Gisbert!
Zu Ostern habe ich Dich ohne schriftlichen Gruß gelassen, und nun bin ich froh, wenn dieser Brief zu Pfingsten gerade noch zurecht kommt. Ich kann noch nicht dahinter kommen, was diese quartalsweise auftretende Unlust zum Schreiben verursachen könnte; ein oft beschämendes, aber doch nur schwer zu unterdrückendes Phänomen!
Ich war inzwischen ein paar Wochen auf einem Truppenübungsplatz in der Lüneburger Heide und habe dort einen Gasschutzlehrgang mitgemacht. Die Heide zeigte sich nur von einer schlechten Seite, vom Frühling unberührt, stürmisches und regnerisches Wetter. Und ich hatte in den Wochen, aus meiner Grube erlöst, Sonne auf Vorrat in mich hineintrinken wollen! Zum Grabe Hermann Löns', das ganz in der Nähe lag, bin ich gewallt; die Wacholderbüsche stellen seinem Grab eine ehrfürchtig trauernde Wache. Bei meiner Rückkehr überraschte mich meine H. Ma. mit ihrem Frühlingsgewand - wirklich wie eine geschmückte Braut. Ein paar wenige Sonnentage haben mir eine frischere Farbe gegeben; aber im übrigen - jetzt verstehe ich erst ganz, wie die römischen und italienischen Schriftsteller Deutsch-
land ein graues Nebelland nennen können.
Wo muß ich Dich jetzt vermuten? Erwartest Du noch hinter dem Atlantikwall täglich die Invasion - oder ist Dein Wunsch, nach Italien versetzt zu werden, inzwischen in Erfüllung gegangen. Mein jüngster Bruder schrieb mir begeistert von einem Besuch in Rom, gar einer Aufführung der Staatsoper! Muß man da nicht neidisch werden? Aber dürfen wir angesichts der drohenden Katastrophe überhaupt noch an solche persönlichen Wünsche denken? Meine sonst angeborene Gelassenheit muß ich jetzt schon ganz bewußt festhalten, um nicht unruhig und verzweifelt zu werden.
Freut es Dich, wenn ich Dir sage, daß mir Dein Brief vom Palmsonntag viel besser gefallen hat als die früheren? Mir scheint es, als ob Deine Ausdrucksweise früher zu schwungvoll für das Gesagte gewesen wäre, so wie wenn einer einen Anzug trägt, der ihm zu groß ist; und jetzt auf einmal kommt sie mir völlig angepaßt, entsprechend, ausgefüllt vor. Oder liegt das an mir?
Zum Pfingstfest wünsche ich Dir die sieben Gaben des Geistes, „Rat und Stärke” ...
Dein Jupp.