Johannes Kiel an Mutter Kranz, 10. Januar 1946

Bonn, 10. Jan. 1946

Sehr geehrte Frau Kranz,

sofort will ich Ihren Brief beantworten; denn von den Briefen, die Sie mir so etwa während des letzten Jahres geschrieben, habe ich keinen erhalten; ich war auch vom 20/12. bis in den August weg. Und nun zu Gisbert! Ich habe diesen Berufswechsel kommen sehen, und - es ist gut, daß er in diesem Punkte zur Klarheit gekommen ist. Aber das - mit dem „Schriftsteller”, das ist eine heikle Sache; er bedarf eines Brotstudiums, einer Grundlage, auf der er vor der Hand stehen kann, - und wenn er dann sieht, daß das Schriftstellern ihm und evtl. einer Familie den Lebensunterhalt bringt, dann kann er sich auf ganz eigene Füße stellen. Nach wie vor halte ich die Philologie mit Deutsch, Philosophie und Geschichte unter den besonderen Verhältnissen, wie Sie Gisbert schaut, für das Gegebene. Drängen Sie aber im Augenblick nicht auf ein Bestimmtes

hin, sondern laßen Sie sich alles bei ihm selbst entwickeln. Er hat ja Zeit zum Nachdenken und wird auch zur Klarheit kommen. Zu dem Geschicke Ihrer andern Söhne nehme ich innigen Anteil. Was stecken Sie in großen Sorgen. Ich werde gern auch Ihre beiden andern Söhne Gott dem Herrn anempfehlen, auf daß Sie doch bald etwas von Ihnen hören. - Mir persönlich geht es gesundheitlich nicht gut; ich bin sehr herzleidend und in meiner Bewegungsfreiheit sehr gehemmt. Ich habe auch das Amt eines Spirituals niederlegen müßen. Wie Gott will! Ich empfehle mich Ihrem Gebete. Und nun haben sie Mut und empfehlen Sie täglich Ihre Familie mit all' Ihren Sorgen der gütigen, göttl. Vorsehung.

Mit frdl. Gruß
Ihr ergebener J. Kiel

Fügen Sie demnächst einen herzl. Gruß an Ihren Sohn bei! Ich würde für ihn beten.