Marianne Eiermann an Paul Görner, 11. November 1942

Rumburg, 11.11.1942.

Paul!

Ein altes Sprichwort sagt: Der grösste Schuft im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant“. Und obwohl Du nicht den Mut aufbringst, mir den schmutzigen Wisch, auf den Du Dich berufst, zu schicken, so kann ich Dir genau sagen, dass der Absender Deine feine Mutter war. Obschon Du mir in Deinem Brief die Ehre abschneidest und ich eigentlich nicht nötig hätte, überhaupt noch ein Wort an Dich zu verschwenden, so will ich Dir doch den Zusammenhang meines Fernbleibens von St. Georgenthal schildern. Vorausschicken möchte ich vor allen Dingen, dass es bei mir keine „angebliche Frisöse oder Kindergärtnerin“ gibt, sondern, dass das, was ich sage oder erzähle, auf Wahrheit beruht, da ich weder zur Lügnerin, noch zur Heuchlerin erzogen bin. Ich wohne in keinem Bordell und verkehre in keinem Nachtlokal, sondern bei Menschen, die über Deine Unverschämtheit auf das Grösste empört sind, Du traust mir keine schlechte Tat zu und dennoch überhäufst Du mich mit Vorwürfen und Gemeinheiten, die jeder Beschreibung spotten. Ich bin mir in allen meinen Handlungen bewusst, dass ich Deine Verlobte bin und kann für das, was ich tue, gerade stehen, aber Du sprichst mit mir, als wenn ich eine hergelaufene Dirne wäre. Als Deine Verlobte kann ich auch verantworten, warum ich am 18.10. schon ½ 4 Uhr nach Rumburg zurückgefahren bin und wo ich am 24.10. war. Wie ich Dir schon schrieb, hatte ich den Kopf voll Ungeziefer, was mir das grauenhafteste war, was mir bisher passiert ist. In all den Stunden, wo Du mich des Nachts an irgendwelchen Stätten herumwandelnd vermutetest, haben mir meine Quartierleute voll und ganz meine Eltern ersetzt und mich entlaust. Zur Entschädigung für diese Entlausestunden und die Schmerzen, die ich durch die Behandlung am Kopfe ertragen musste, gab es vor dem Schlafengehen im Familienkreise (nur in Anwesenheit des 14 jährigen Sohnes) einen Kaffee, der nicht von Pappe war. Im Hause meiner Quartierleute, sowie in meinem Elternhause, habe ich Redensarten, wie sie Deine Mutter mir ins Gesicht gesagt hat, noch nie gehört. Da ich mich geschämt habe, obwohl ich ja auch nicht weiss, wo das Ungeziefer her kam, wollte ich ursprünglich Deiner Mutter nichts davon sagen, wie es mich auch in Rumburg eine schwere Ueberwindung gekostet hat, davon zu sprechen. Nachdem sie mich jedoch dauernd bemusterte und zu mir sagte: Du siehst halt aus, als wenn du jeden Tag einen drin hättest“, war ich gezwungen, klipp und klar alles zu erzählen. Ich habe durch die Aufregungen, in denen ich mich bei meiner Stellung in einem Lebensmittelgeschäft und bei meiner Auffassung von Anstand und Sauberkeit befunden habe, körperlich und seelisch gelitten, was sich natürlich auch auf mein Aussehen ausgewirkt hat. Dass meine immerwährende Aufrichtigkeit dazu ausgenützt würde, mich bei Dir schlecht zu machen, konnte ich ja nicht ahnen.

Deinen „wohlgemeinten“ Vorsatz, meine Eltern in Kenntnis zu setzen, habe ich Dir schon bereits erspart, da ich Deine feinen Briefe alle nach Hause geschickt habe, auch den heutigen, damit meine Eltern sehen, in welch guten Händen sich ihre Tochter befindet und wer hier „unfein“ ist. Du siehst also, dass ich nicht gewillt bin, diese schmutzige Sache „unter uns“ auszutragen, da es sich für mich weder um einen Scheissdreck, noch um eine belanglose Sache handelt, sondern um meine Ehre, die ich mir von niemandem, auch von Dir nicht, abschneiden lasse.

Marianne