Theo Hoffmann an seine Freundin Rosa, 4. November 1941

Hofgut Stöcken [bei Freudenberg im Kreis Siegen] [Poststempel 4.11.1941]

Mein liebes Röschen,

trotzdem ich mich schon über eine Woche hier befinde, habe ich noch keine Zeit, besser keinen Drang, verspürt, zu schreiben, niemandem. Di r gegenüber muss das aber als eine besondere Nachlässigkeit bezeichnet werden, erhielt ich doch schon von Dir einen Brief mit den V-Karten, die ich bisher noch nicht habe in Aktion treten lassen. Das erklärt sich aus der Natur meiner jetzigen ländlichen Heimat: völlige Abgeschiedenheit, Landleben à la Pieter van Breughel. Nun, ich befinde mich auf einem 400 Morgen großen Gut, welches in einem Tal mit vielen Bachen zwischen Bergen liegt, daran Abhänge in den satten Farben des Herbstes prangen, heute aber zum ersten Mal mit Schnee bedeckt sind. In den dichten Tannen- und Laubwäldern, die bis an den Garten hineinwachsen, hebt sich das leuchtende Weiß des Hauses, von schwarzen Balken durchzogen, weithin ab. Wir sind hier so von aller Welt abgeschlossen, dass nach 2 Jahren Krieg noch nicht verdunkelt worden ist + auch nicht wird.

Es ist allerdings beschrieben worden, dass sich hierher einmal ein feindlicher Flieger verirrt haben soll, doch bleiben Bestätigungen aus. Die Gutsleute sind angenehme, liebenswerte Leute, die das Herz und vor allem den Kopf (!) auf dem rechten Fleck haben. Das klärt auf die beste Weise von vornherein die Atmosphäre. Ich lebe in gewollter Einsamkeit, die im Anfang allerdings durch starken Schnupfen und Heiserkeit getrübt wurde, Folge der Umstellung: ich war fast richtig krank. Es dienen zu Unterhaltung noch zwei ältere Herren, voller Toleranz, die wirklich eine Reife des Alters besitzen und sich durch nicht [---] beirren lassen. Meine Erwartungen hinsichtlich der Lebensbedingungen haben sich mehr als erfüllt: Es gibt viel Milch, ich trinke täglich 2-21/2 Liter (!), Habe am Tag 3 x 50 Gramm Butter, genügend Fleisch, (Schinken, Schinkenspeck) Eier, Honig etc. In der nächsten Woche wird ein 5 Zentner schweres Schwein dem Messer überliefert. Bei meiner Rückkehr werde ich Dir noch manches erzählen können. Die Zeitungen kommen 1 ½ Tage später, eine Tatsche, die auch den besten Staatsbürger enthebt, sich auch nur eines Blickes noch zu würdigen. Dieser Tage habe ich für die Tochter des Hauses bei Giessen ein Klavier gekauft, in der heutigen Zeit ein Kunststück. Die Idee stammte natürlich von mir: ich hatte nichts eiligeres

zu tun, als den Eltern einzusuggerieren, dass zur Bildung Klavierspielen und zu letzterem ein Klavier gehört. Der Kauf war eine Affäre für sich: von 11 Uhr mittags bis 5 Uhr nachmittags habe ich verhandelt, um den Preis von 270 auf 205 Mark zu drücken. Du hättest sehen sollen mit welch einer Hartnäckigkeit die Frau um jede Mark feilschte und welche Argumente dabei ins Feld geführt wurden. Ich war nicht weniger zäh und gewandt; zwischendurch unterhielten wir uns mit der größten Ruhe vom Heiraten, Kochen, Kinderkriegen – sogar ihren ersten Sündenfall verriet mir diese Frau. Ihr Mann soll angeblich dieses [---]noch nicht kennen. Neuerdings spiele ich eine Rolle bei den Verhandlungen des Gutsherrn mit öden [---] insofern, als ich die Argumentierung dieser gerissenen weißen Juden, die immer zu zweit kommen – eine fantastische Taktik, auf die ich hier habe aufmerksam machen können – zu entkräften und Gegenangriffe zu leisten habe. Bei uns gibt es jetzt nichts mehr zu verdienen. Jedenfalls alles in allem eine kleine Abwechslung....

Ich entbehre hier nichts. Ich habe keine Verlangen nach irgendwelchen Genüssen, ich lebe ganz meinem leiblichen Wohlbefinden. Wie wunderbar ist es, morgens ausgeruht und voll Kraftbewusstsein sich zu erheben. Luxe qui peut, nach diesem Krieg werden die Überleben weiter bestehen können, die körperlich ungeschwächt überstehen.

Geistig haben wir ihn ja schon überwunden, manches Detail kommt hier hinzu – es wird Dich brennend interessieren. Die Entwicklung langer, ausholender Gedankengänge kommt nicht recht in Bewegung – ich forciere es keineswegs – denn sie sind leider nur mit Abspannung, Schlaflosigkeit und den ganzen Miseren verbundnen. Diese machen zwar im Moment der größten Anspannung glücklich, aber auch krank und widerstandsunfähig. Infolgedessen will ich diese Ausgeglichenheit nicht erschüttern. –

Doch wie geht es Dir, liebes Röschen, Du hast während meiner Krankheit so rührend für mich gesorgt, dass es unsere Beziehung beinahe zu einseitig belastet hat. Ich weiß, Du tust es gern und bist darin ganz selbstlos. Aber ich sehe darin auch eine Gefahr sowohl für Dich als auch für uns beide. Aller Geist der Güte macht unglücklich und vernichtet sich selbst, wenn der andere diesen nicht genügend erfühlt und sich beugt. Kann er sich beugen? Erkennen wir unsere Grenzen, werden wir diese Fährnisse überwinden. -

Das Päckchen mit dem Gebäck war wunderhübsch zusammengestellt – schon allein die liebevolle Anordnung der einzelnen Plätzchen in der Büchse mussten einen erfreuen. Und gemundet haben sie glänzend. Sie werden auch noch ihren Teil dazu beitragen, mich in schwerer Fassung – hoffentlich – zurückkehren zu lassen.

Sei weiterhin recht glücklich und lebe wohl, herzlich wohl

Dein Theo

[Es folgt ein beigefügter Brief:]

Liebes Röschen, erhalte im Augenblick Deinen lieben Brief. Wie Du aus dem Meinigen ersiehst, bin ich in nichts enttäuscht. Kalt ist es hier, heute Nacht hoher Schneefall; in meinem Zimmer habe ich einen prächtigen elektrischen Heizkörper. Die kleinen Nuancen zum eisernen Sparen sind vortrefflich – bestätigen auch meine Aussicht, dass „etwas faul ist im Staate Dänemark“. (Hamlet) Es freut mich sehr, dass Du in die „Béatidudes“ gehst – beinahe wäre ich versucht gewesen, meine Kur zu unterbrechen, aber ich habe mir geschworen !! Brauchte die langgestreckten Melodien, die eigenartige, nur César Franck eigenartige Harmonik und Enharmonik. Ich habe 1935 und 36 zum erstenmal an der städtischen Musikbibliothek auf ihn aufmerksam gemacht, wo der mich, als ich zum erstenmale

die sinfonischen Variationen für Klavier und Orchester hörte – bis zum Tränenausbruch ergriff und berauschte. Seit dem hat die Bibliothek einige Werke von ihm angeschafft. In meiner Schallplatten-Bibliothek kann man mehr Werke von ihm hören. Gestern kam der Radioapparat zurück und ich hörte am Abend la Rédemption, Oratorium für Solisten, Chor, Orgel und Orchester von César Franck aus dem großen Kasino in Vichy... wunderbare Solisten. Wunderbar, wohl eine Auffassung der menschlichen Existenz: Selig sind die Weinenden, denn sie werden getröstet werden. Selig sind die, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden. Selig sind die , die Verfolgung leiden und Gerechtigkeit wollen, denn ihrer ist das Himmelreich. Solche Worte in einer Welt der Grausamkeit, der Verachtung und Vernichtung menschlichen Seins.

Theo

„Seligpreisungen“ aus einem Oratoriumswerk von César Franck (1822-1890)