Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 30. August 1943

30.8.43 [Poststempel]

Lieber Theo,

heute ist Dein Leinenhöschen fertig geworden, und ich habe den Eindruck, dass es ganz passabel aussieht. Diese Arbeit für Dich hat mir viel Freude gemacht, sie hat nur länger gedauert als mir um Deinetwillen lieb war, aber wie Du Dir wohl denken kannst, war es nicht ganz einfach, immerhin eine ungewohnte Arbeit für mich, da ich mich ja zum ersten Mal als „Herrenschneider“ betätigt habe. Du siehst, was ich Durch Dich alles lerne. Ja, meine Fähigkeiten sind unbegrenzt – lache nicht, ich bin natürlich stolz auf mein Meisterwerk. Hoffentlich kannst Du mich darum loben, ich wünsche jetzt nur, dass es passt, gut sitzt und Dir Freude macht, vor allem dass Du noch recht viel Gelegenheit hast, es zu brauchen – dass nicht das Sommerhöschen zum Winteranfang bei Dir eintrifft. Gleich werde ich das Päckchen noch fertig machen, wenn die mit dafür bestimmten soeben ge-

backenen Plätzchen abgekühlt sind. Das Backen war diesmal auch eine verwickelte Arbeit; stell Dir nur vor, wie ich den Teig durchgearbeitet habe mit einem ganz zerschnittenen rechten Zeigefinger. Es sind mir beim Aufräumen einige Scherben aus dem Küchenfenster draufgefallen - ich bin nämlich wieder einmal fliegergeschädigt, zwar nicht ganz so schlimm wie im Juni, aber es hat genügt. Das ist doch nun schon das fünfte Mal. Die Engländer haben anscheinend einen Flug durch die Gemeinden gemacht zwischen Ruhr und Rhein, über Leverkusen! Natürlich wieder bis Heumar. Es sind hier einige Gärten verwüstet und mehrere Wohnungen ausgebrannt. Zahllose Brandbomben und Kanister konnten unschädlich gemacht werden; es war ein wahrer Segen für Heumar, dass es nach einem Gewitter gerade den ganzen Tag vorher geregnet hatte. Wir haben wieder einmal

sehr viel Glück gehabt.( Viele danken es unserem Pfarrpatron, dem hl. Cornelius, der hier sehr verehrt wird), aber es war doch eine ziemlich aufregende Nacht, und einige Frauen haben bei den Erschütterungen im Bunker die Nerven verloren. Und vor Tagen führte die Zeitung in großer Umrandung, ohne Beiwort, Shakespeare an:

Der Feige stirbt schon vielmal, eh er stirbt. Die Tapfern kosten einmal nur den Tod. Von allen Wundern, die ich je gehört, scheint mir das größte, dass sich Menschen fürchten, da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller , kommt, wann er kommen soll.

   Ist es nicht eine grenzenlose Gemeinheit, diese Worte zu missbrauchen und den Menschen das mit so offensichtlicher Beziehung zu sagen? Ich bin so empört, wenn ich dabei an all die gehetzten Mütter mit ihren kleinen Kindern denke. Zuweilen entrüstet mich alles. In der vorigen Woche habe ich

auch in meinem Wellblechbüro wieder Qualen ausgestanden und bin an einem Tag mit einem leichten Hitzschlag mühsam und elend nach hause gekommen, worauf ich zwei Tag zu Bett liegen musste. Zum Ausgleich habe ich mich gestern ganz den Sommerfreuden ergeben. Ich war in Hoffnungsthal zum Schwimmen. Diese ganze kleine Badereise ist ein wundervoller Genuss: die Fahrt durch den Wald, die schöne Badeanlage in dem entzückenden kleinen Tal - Du kennst es doch? - da fühle ich mich im Wasser unendlich wohl und empfinde hinterher meine Haut wie einen wonnigen Samtpelz. Wir haben uns gesonnt und wilde Spiele gespielt; meine Schwägerin und noch zwei nette Heumarerinnen waren dabei und einige Schüler aus der Königsforst - Siedlung, so etwa 18jährige - die schwärmen einen so nett an und sind so tapsig-ernsthaft ritterlich, das ist zu nett. Den Weg nach

Hoffnungsthal habe ich mit dem Rad gemacht über die schöne Waldstrasse. Ich dachte an unsere gemeinsame Waldfahrt nach Dellbrück, wie schön es war neben Dir - nach so langer Zeit warst Du endlich da , und ich konnte mich gar nicht satt sehen an Dir. Du müsstest wieder mit mir fahren lieber Theo, es ist so schön hier. Die Heide blüht mit lockendem Duft, der Wald ist wie selige Unendlichkeit und der Himmel von geheimnisvoller Bläue und Tiefe. Es ist noch voller, reicher und verschwenderischer Sommer, dass man die Seele auftut und Verzauberung trinken möchte. Ich muss an Verse von Novalis denken, die ich einmal irgendwo fand:

Hätten die Nüchternen
einmal gekostet,
alles verließen sie
und setzten sich zu uns
an den Tisch der Sehnsucht,
der nie leer wird.
Sie erkennten der Liebe unendliche Fülle
und priesen die Nahrung von Leib und Blut.

Hat er nicht tausendmal Recht? “Der Tisch der Sehnsucht, der nie leer wird“ - wunderbar. Es freut mich, dass Du auch mit zu dieser Tafelrunde gehörst .- -

Morgen muss ich nach Emden fahren, weil ich Wäsche hinbringen muss, die jetzt mit der Post zu lange unterwegs ist – und weil ich es längst versprochen habe. Ich fürchte mich ein wenig davor und merke entsetzt, dass ich kein Fünkchen Freude empfinde. – Doppelt schwer ist es, weil ich immer noch keine Nachricht von Dir habe. Die Traurigkeit darüber ist zu jeder Stunde und bei allem Tun in mir. Ich weiß nicht, welches Gefühl größer ist: meine Unruhe über Dein Ergehen oder der Schmerz, dass Du so lange kein Wort für mich findest.

Hast Du denn gar keinen guten Gedanken an mich mit Dir genommen? Es müsste doch jetzt ein Brief von Dir da sein – nie werde ich mich daran gewöhnen können, ohne zu weinen vier und mehr Wochen auf einen Gruß von Dir zu warten .- Wie lebst Du jetzt, und was tust du? Ich muss es immer wieder fragen. Du wirst wohl nicht an allzu gefährdeter Stelle sein?

Alle Engel mögen Dich behüten!

Lebwohl lieber Theo!
Deine Röschen

Röschens Ehemann Franz Sch. war an der Küste in Rynern bei Emden bei einer Marine-Wetterbeobachtungs-Einheit stationiert.