Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 26. September 1943

26.9.43

Lieber Theo!

In den letzten Tagen habe ich eine größere Anzahl Päckchen an Dich abgeschickt, darunter eins von 1000 Gramm mit Obst, und eine weiteres ‘großes’ soll morgen zur Post kommen, es ist noch in Vorbereitung. Soeben habe ich erst, neben dem Radio sitzend und mit vielen Gedanken an Dich einer wundervollen Kleine Bach-Musik lauschend, noch Nüsse entkernt und enthäutet, die ich ganz frisch von ‘meinem’ Baum für Dich heruntergeschüttelt habe. Da sie jetzt reif werden, muss ich auf der Wacht sein, denn kaufweise gibt der geizige Eigentümer leider keine ab - und ich möchte Dir doch so gern einige besonders schöne Paketchen machen; das ist seit meiner Rückkehr von der Mosel meine wichtigste Arbeit. Du brauchst gewiß eine kleine Zugabe jetzt mehr als jemals sonst. Hoffentlich kommt alles recht bald in Deine Hände.

In Deine Hände - da verliere ich

mich in Gedanken, wo und unter welchen Umständen das wohl sein mag. Voll Angst frage ich mich immer wieder: ob Du denn nun bleiben musst an dieser äußersten Front? –

Ich möchte so gern wieder einen Brief von Dir haben, lieber Theo, Du kannst es Dir wohl ausdenken, was gerade jetzt ein Lebenszeichen von Dir mir bedeutet. Nun hat dieses Wort seinen eigentlichen, so furchtbar buchstäblichen Sinn erhalten. In tiefer Erregung und Erwartung sehe ich morgens die Post kommen. Ach diese lange Zeit zwischen Absendung und Ankunft eines Briefes! Du schriebst aus der Gegend um Charkow - unlängst ist schon Poltawa geräumt. Diese Eile ist doch Flucht. Bei jedem Wehrmachtsbericht ergreift mich neue heiße Angst. Was weiß ich denn im Augenblick von Dir - ob Du mit auf dem Rückzug bist? Ob Du wieder in einem elenden Erdloch liegen mußt in Schmutz, unter Trommelfeuer und

Bomben ? Mein ganzes Herz tut weh, wenn ich Dich so sehen muss: gequält, ohne Pflege und erschöpft von Geschehnissen und Empfindungen. Es bewegt mich tief, dass Du dabei mir schreibst, auf so vieles eingehst und antwortest - ich bin so wehmütig - glücklich darüber, lass mich Dir noch einmal danken für Deinen lieben langen Brief. Lieber Theo - ich lese ihn wieder und wieder. Deine nachdenklichen Betrachtungen über die Frage: was ist der Mensch, Deine tiefgehenden Gedanken geben mir ein Gefühl von Freude. Wie schön ist Deine Klarheit, Dein Empfinden - jedes Deiner Worte ist mir heilig. Und heilig sind mir Deine Schilderungen des Kriegsgeschehens, Deines so bitter gefährdeten Lebens; sie werden für immer das Zeugnis einer schweren Schuld sein. Wie sich das Schreckliche steigert in Deinem Brief, bis Du all Deine Leute verloren hast - und wie grausam zeigt mir

das wieder die Gefahr für Dich.

Ach lieber Theo, die Mächte des Himmels mögen Dich bewahren, und Gott gebe, dass auch Dein Wagen weiterhin heil - und Dir notfalls Rettung bleibt. Ich wünsche aus tiefstem Herzen, mein Brief möchte Dich doch wieder in günstigerer Stellung antreffen.---

Wenn Du nicht heimkehren würdest - diesen Gedanken darf ich nicht tiefer in mich eindringen lassen, aber ich weiß, dann wäre nie mehr mein Herz ohne Trauer. Ich könnte niemals Dich und Dein wundervolles Menschsein vergessen.-

Du musst nicht sagen, dass ich Deine Fehler übersähe lieber Theo, bisher hast Du sie mir wirklich nicht gezeigt. - Du solltest eben einmal so lange bei mir sein, bis ich wenigstens einige davon herausgefunden habe.- Es ist überwältigend für mich, wie Du der Stunden bei mir gedenkst, wie hast Du doch Deine Gegenwart und unbeschreibliche Empfindungen wieder in mir

wachgerufen - ich musste eine Zeit verweilen an dieser Stelle Deines Briefes.- Dein Lob über meine Bewirtung ist zu lieb, ich bin sehr stolz darauf, da ich doch weiß, welch ein Feinschmecker Du bist. Und doch, jetzt da Du wieder fort bist, habe ich in Gedanken an die damaligen Tage das Gefühl, mich noch in keiner Hinsicht erschöpft zu haben. Du musst wiederkommen lieber Theo, so manches ist noch offen geblieben. Hoffentlich werden dann auch die Umstände glücklicher sein, hoffentlich. -

Ich freue mich, dass meine Bildchen dir gefallen - und ich danke Dir für Dein nettes Kompliment, von Dir höre ich es doppelt gern. Darf ich Dich jetzt auch noch einmal daran erinnern, dass Du schon längst von Dir mir einige Bilder schicken wolltest? Wenn Du es tun kannst, würde ich mich so sehr freuen; eigentlich warte ich schon länger als ein Jahr darauf. Zuweilen möchte ich doch allzu gern in

Dein liebes Gesicht sehen, wenigstens auf dem Bild - bis Du wieder einmal da sein wirst.

Wenn man im Radio die Frontberichte, zumal der Luftwaffe, so hört, besteht der Krieg nur im ganz einfachen Vernichten russischer Regimenter und Waffen und Flugzeuge - man fragt sich, warum dann nicht längst gesiegt und ein Ende gemacht ist. In Italien hat man ja im Augenblick zum großen Teil Oberwasser, aber sonst--- wahrlich, plus en plus mal, man merkt es allein an den Themen der Propaganda.

Für dieses Jahr sind auch die Einkeller-Kartoffeln je Kopf um 1 Zentner vermindert, das ist sehr viel, aber als Trostpflaster ist gleichzeitig die Erhöhung der Brotration angekündigt. Die Gemeinde Porz war wieder einmal nahe daran, die Fleisch-Sonderkarte zu verlieren. Die Bevölkerung hat schwer gemurrt, so wurde sie 8 Tage später doch noch ausgegeben. Ja, schließlich müssen immer mehr Städte damit ge-

tröstet werden. Neuerdings greifen die Engländer in einer Nacht schon zwei Städte an , und das in rascherer Reihenfolge als sie es bisher bei einer Stadt taten. In Köln wird die Zivilbevölkerung aufgerufen zu großem ‘Aufräum-Wochendende’ hinsichtlich Schutt und Unrat, und einer ‘Rattenbekämpfungsaktion’, da sich in den Trümmern das Ungeziefer jetzt breit macht. Ganz unerträglich ist in all diesen Strassen der Geruch des Leuchtgases, das anscheinend ungehindert aus vielen Stellen ausströmt. Die Schildergasse finde ich völlig unpassierbar. Man kann nur immer wieder sagen: Du arme Stadt.-

Gestern Abend war ich im Opernhaus in Calderons Lustspiel ‘Die Dame Kobold’. Es interessierte mich, wie man solche Dinge hier bringt - und ich war recht enttäuscht. Man hat dies Stück völlig verdorben, indem man Gefühle und zeremoniellen Brauch possenhaft übertrieb. Die

feinen Schönheiten sind dadurch kaum zur Geltung gekommen. Es war jammerschade um das entzückende Spiel. –

Ich merkte aber auch, ich kann gar nicht so am Herzensgrund lachen. Zu schwer ist das Nichtwissen um Dein augenblickliches Ergehen. Sieh’, wie auch jetzt, ich sitze in meinem Wohnzimmer in Sauberkeit, Wärme und Behaglichkeit, kann lesen, oder Musik machen - draußen regnet es in Strömen - und Dich in allem Graus zu denken! - Sollte man jetzt nicht einmal sich für einen einzigen armen Abend Fausts Zauberpferde wünschen?

Lieber Theo, komm bald zurück, bleibe gesund vor allem und behalte die schönen Kräfte Deiner Seele. Gottes Schutz sei mit Dir bei Tag und Nacht.- Schreibe wieder -

Ich grüße Dich herzlichst!
Deine Röschen

R.Sch. war als Transportbegleiterin im Rahmen der Kinderlandverschickung an der Mosel u.a. in Traben-Trarbach.