Annemarie F. an Theo Hoffmann, 26. September 1943

Köln-Deutz, den 26.September 1943

Lieber Theo!

Ein Sonntagnachmittag liegt vor mir. Keine Arbeit winkt in den nächsten Stunden, ich habe mal ganz frei, was in letzter Zeit selten vorkam, trotzdem ich noch nicht im Dienst bin; doch man kann ruhig sagen, dass ein Hausfrau heutzutage ein wahrer Langarbeiter ist. Da ist der Sonntagnachmittag doch der einzige Zeitpunkt, wo man nicht irgendwo Schlangestehen muss, mit stoischer Geduld warten ... manchmal umsonst.

Nun, wo ich n unserem gemütlichen Zimmer sitze, bei den herrlichen Klängen der 1. Sinfonie von Beethoven, (ich weiss nicht, ob Du auch solche Musik liebst) da bekomme ich langsam Gewissensbisse,

wenn ich an Euch da draussen denke, die Ihr keine Annehmlichkeiten habt und keine andere Musik als den zerschmetternden Rhythmus von Tod und Vernichtung, der Euch jeden Augenblick mitreissen kann in die dunkle unbestimmte Welt, aus der es kein Zurück mehr gibt, und dann wird es mir schwer auf diese Melodien zu hören, die erzählen von besseren, schöneren Zeiten, von einem Leben fern von Grausen und Tod, einem Leben, das nur Schönheit und Freude an der herrlichen Welt kennt. Es wird mir schwer daran zu glauben, wenn ich die ungeheuren Schrecken der Gegenwart bedenke und das vielleicht noch grössere Grausen, das hinter der schwarzen Wolkenwand der Zukunft lauert ... und doch, oft ist die Musik die einzige Macht, fähig diese dunklen Wolken zu durchbrechen, und uns zu zeigen, dass sie allein über alle jene Zeiten hinweg fähig bleibt,

uns Schönheit ins Leben zu bringen, wenn Krieg- und Bombenterror uns alles, alles genommen haben.

Damit meine ich nun nicht allein die ernste Musik. Nein, die leichte, anspruchslose Musik hat auch ihre Schönheiten, Sie regt mich angenehm an, wandelt schlechte Laune in gute, verwandelt unangenehme Arbeit in Vergnügen, während ich die ernste Musik nur in absoluter Freizeit geniessen kann. Manchmal habe ich dann das Bedürfnis, an jemand einen Brief zu schreiben. Das habe ich dann auch heute getan. Hoffentlich erklärst Du mich nun nicht vollends verrückt, bigott, dumm, wenn ich so selbstherrlich meine Ideen dahinschmiere...

Ab Donnerstag gerate ich wieder in die Klauen der NSV, trotzdem ich noch lange nicht gesund bin. Neuerdings pikst mein Blindarm ganz infernalisch und ich schwanke noch zwischen der Wahl NSV oder Messer (Brrr). Ich glaube, es wird NSV.

Wirst Du mir bald mal schreiben, ob mein letzter Brief aimable und raisonnoble war?

Ich weiss, Du bist ein strenger Kritiker. Du fragtest, warum Resi schweigt. Nun, sie hatte so gut geschlafen und daher nicht viel Stoff für einen Brief... und ausserdem so viele Verehrer, dass sie zur Zeit völlig ausverkauft ist. Ich werde sie wohl nie mehr wiedersehen. Einige male schrieb ich nach Rolandseck, ohne jedoch Antwort zu erhalten. Es ist doch merkwürdig wie schnell die Bande zerrissen sind, die uns durch so langes Zusammenleben und Arbeiten verbinden, während manchmal eine flüchtige Begegnung genügt... ach, jetzt schreibe ich schon wieder dummes Zeug.

Wenn Dich dieser Brief erreicht, ist es in Russland beinahe Winter (Der Gedanke darin macht mir Gänsehaut) und vielleicht habe ich dann ein Lebenszeichen von Dir.

Für heute nimm die herzlichsten Grüsse

Von Deiner
Annemarie