Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 18. September 1944

18.9. [1944]

Lieber Theo,

ich will Dir noch schnell einen kleinen Gruß schreiben. Das Elend nähert sich. Schon wird ja bei Stolberg gekämpft. Man weiß nicht, was der nächste Tag bringt. Ich bin aus meiner Musikseligkeit spürbar aufgestört worden – im wörtlichen Sinne. Wir hören jetzt die Geschütze der Front. Die ganze Nacht hat das ferne Rollen angehalten; ich bin mehrmals aufgewacht, wenn eine Steigerung die Rolladen vor meinem Fenster leise rasseln ließ. Du kannst Dir denken, dass bei diesem Gebummer mich die Frage bewegte: wie oft werde ich noch in diesem meinem schönen Bett schlafen können? Wohl wenige haben die Nacht sorglos geruht. Alle sind voll banger Fragen an das Schicksal, und wo nur zwei Menschen zusammentreffen, ist von nichts anderem die Rede als: müssen wir fort oder dürfen wir bleiben, sollen wir fort – kann man bleiben? Ich habe den Elendszug der Aachener und der Grenzdörfler gesehen. Auf meinem Weg zum Büro bin ich ja die ganze lange Aachenerstrasse – in Kalk sah ich schon die ersten – daran vorübergefahren, wie sie auf Lastwagen, Autos, Wagen und Karren und Fahrrädern, hochbepackt, übermüdet und verdreckt daherkamen. Mir kommen jetzt beim Erinnern wieder die Tränen – es war ein herzerschütternder Anblick. Alles sah mit bleichen Gesichtern auf diese Armen und ihr bisschen mitgeschleppter Habe

und alles sah auch in heimlicher Angst das gleiche Los auf sich selber zukommen. Jetzt gehen die Leute hier daran, in den Kellern kleine Räume oder Ecken zuzumauern, in denen man die wertvollen Dinge versteckt hat. Andere wieder vergraben ihren Besitz, ja sogar ganze Zimmereinrichtungen, tief in die Erde ihrer Gärten.

Ach, lieber Theo, was ist doch der Mensch ein armes, kleines Geschöpf in diesen Tagen. Viele sind fluchtbereit bei gepackten Koffern, aber weitaus die meisten wollen nicht fort. Man hört hier und da, Köln solle zur offenen Stadt erklärt werden, doch das wird ein allgemeiner Wunsch der Bevölkerung sein, auf den letzten Endes ja keine Rücksicht genommen wird. Ich habe nur die Hoffnung, dass entweder alles einmal zu plötzlich kommen wird, oder dass man nicht mehr weiß, wohin mit all diesen Hunderttausenden, die Köln immer noch hat. Wie es allerdings in jedem Fall hier auf der rechten Rheinseite wird, das wissen immer noch nur die Götter. Zu viel ist hier, was mir nicht gefällt. Ein Bauer von hier, der aber schon vor dem Krieg nach Overath übergesiedelt war, soll dort den Bescheid bekommen haben: wenn der Befehl zu räumen an ihn erginge, hätte er sofort zu folgen und Haus und Hof in Brand zu stecken! Und aus den Grenzorten und den Dörfern vor Köln hört man allgemein,

dass die Männer aufgefordert werden zu bleiben und mit der Waffe – die sie dann wohl bekommen – jedes Haus zu verteidigen! Das ist dann wohl der „Volkskrieg“, der sonst als Franctireur-Krieg ( Freischärler ) verlästert wird. O es ist unglaublich, wie das Volk bearbeitet wird. Ein paar kleine Beispiele nach einer Richtung hin sind die beiliegenden Zeitungs-Ausschnitte. Rohheit und Brutalität sind Trumpf. Und Angst und blinder Fatalismus sollen herrschen. Auch dazu muss ich Dir bloß eine ganz winzige Auswahl aus der Fülle der Traktate mitschicken, die täglich mit den gleichen Worten, nur wenig variiert wiederkehren. Ich will Dir damit nur einen Begriff unserer augenblicklichen Atmosphäre geben. – Im übrigen zeigt der Artikel „Räumen oder bleiben“, wie nahe es uns bereits angeht. Aber ich muss sagen, ich habe auch bis heute noch nichts eingepackt oder weggeschafft. Weiß man denn, was das Rechte ist? Es bleibt doch nur übrig, dass Gott uns vor dem Schlimmsten bewahrt. Du kannst Dir denken, dass sich hier die Nachrichten und Gerüchte jagen und einen zuweilen in eine ungeheuere innere Aufregung und Anspannung versetzten. Ich bin in einer seltsamen Stimmung, die zwischen Niedergeschlagenheit, Hoffen und Gefasstheit hin und her geht. Es ist der leere Zustand des Wartens.

Außerdem, aber nicht zuletzt, bin ich ein wenig traurig, weil ich noch nicht wieder einen Gruß von Dir habe. Ich rechne jeden Tag von neuem nach, und meine, fast schon Antwort auf meine ersten Briefe nach Budapest haben zu müssen. Nun bin ich unruhig. Geht es Dir nicht gut, lieber Theo? Du weißt, das ich mich sorge. Manchmal sehe ich Dich in meinen Gedanken elend krank daliegen – das wird doch wohl nicht wahr sein? Tu Dir keinen Schaden, Lieber, mit allzu großer Sorge um die Deinen, das Schicksal wird sie Dir ganz gewiss hüten. Sei nur bald gesund. Was musst Du denn jetzt eigentlich für Dich tun? Ich möchte so gern mehr von Deinem augenblicklichen Leben und Ergehen wissen, von Dir und allen Dingen um Dich. Erzähle mir doch wieder - .

Ich selbst habe vorerst noch Erfolg gehabt hinsichtlich meiner Arbeitszeit, ich bin in dieser Woche noch einmal zu Hause, nachdem ich in den vergangenen Tagen mit meinem Chef zweimal eine ganz hübsche Auseinandersetzung hatte. Die Sache liegt nämlich an ihm allein. Ich hatte ihm in Anbetracht der Einberufung eines Kollegen vorgeschlagen (für meine Schwägerin mit), in der sonst freien Woche noch zwei Tage zu arbeiten, was für ihn ein Ersatz von 4 Tagen

ausmache, während die übrigen 1 ½ Tage der Woche durch die verlängerte Arbeitszeit aller ja gut ausgeglichen wären. Diese Gesamtarbeitszeit wollte er uns „zugestehen“, wenn wir jeden Tag , das wären dann etwa 6 Stunden, zum Dienst kämen. Natürlich haben wir das im Hinblick auf die dreistündige und vor allem jetzt so strapaziöse Fahrerei energisch abgelehnt. Daraufhin schickte er, uns schlechtere Entscheidung androhend, den Betriebsobmann zum Arbeitsamt, der aber auch nichts Definitives erfahren konnte – und deshalb halte ich es jetzt noch wie vorher. Ich glaube aber nicht, dass der Chef das nun ruhen lässt und warte also weitere Attacken ab – obgleich mir der ganze Streit im Augenblick sinnlos genug erscheint. Sinnlos so vieles.

Ich lese jetzt – neben meiner Musik – und da ich zu Haus- und Gartenarbeiten in diesen Tagen gar keinen Antrieb habe, viel in der Divina Commedia - ah, welch ein anderes Sein! Da möchte ich wieder so gern Dich dabei haben –

„von Dingen sprechend, daob zu schweigen schön ist,
so wie das sprechen war dort, wo’s geschehn.“ –

Mir liegt eine Frage auf der Seele: Kannst Du gar-

nicht daran denken, bald einmal, wenigstens kurz, wieder heimzukommen? Vor einigen Tagen sah ich von der Straßenbahn aus einen Offizier Deiner Größe und Figur, die gleiche Uniform – mir wurde ganz heiß, und – lache nicht – fast wäre ich aus der Bahn dem Mann nachgelaufen. Doch ich sah dann, es war nicht Deine Art zu gehen. Aber an dem Abend hatte ich einen schweren Anfall von Heimweh---.

Ich schicke morgen wieder ein kleines Päckchen an Dich ab, lieber Theo, da ich für einige Zigaretten wieder ein Paketmärkchen einhandeln konnte. Hoffentlich ist es Dir willkommen, und wenn ich sonst irgendetwas für Dich tun kann, dann sagst Du es mir doch, nicht wahr?

Lebwohl Du Lieber, alles Gute, alles Glück sei Dein!

Ich küsse Deinen lieben Mund –
Deine Röschen