Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 14. Oktober 1943

14.10.43 [Poststempel]

Lieber Theo,

ich verbringe wieder eine Woche zu Hause in erquickendem Ausgleich zu der geistlosen ‘Zwangsarbeit’ der in den letzten Zügen liegenden Geschäfte unseres Büros. Zum Teil sind meine Tage voller Betriebsamkeit mit Haus- und Gartenarbeit, den Lebensmittelkarten und Besuch. Meine nettesten Bekannten haben Abschiedsbesuch gemacht, sie sind in Klettenberg abgebrannt und haben inzwischen in Sachsen neue Betriebsräume und Wohnung gefunden, sodass sie nun endgültig übersiedeln. Das ist die zweite befreundete Familie, die ich auf diese Weise verliere. Mit denen, die inzwischen auch nur ruhigere Gebiete aufgesucht haben, wird es so immer einsamer um einen. Fröhliche Geselligkeit gibt es längst nicht mehr. Die vermisse ich jetzt aber auch nicht, es ist dennoch niemals leer um mich. Da sind ja meine Bücher, in denen noch vieles zu entdecken ist, außerdem habe ich mein Klavierüben wieder aufgenommen, weil es so schön ist, mit Noten und Tönen umzugehen - und da sind Deine Briefe, sie füllen Herz und Haus.—

Du solltest aber jetzt hier sein, lieber Theo und einmal mit mir durch Wald und Feld streifen. Es ist begeisternd schöner Herbst geworden, mit warmer Sonne, bitter-süßem Wind und zartblau verschleierter Luft voll silberner Spinnfäden. Weißt Du, dass Feldspinnen sie ausstoßen und sich damit vom Winde fortwehen lassen? Welch selig-sorgloses Tierleben! Der Wald ist bunt,

voll schönen Vergehens, und tanzende Wiesennebel steigen bis in den Himmel hinauf. Die Kraniche ziehen hoch vor der Sonne in langen Linien nach Süden, zuweilen ihre weichen, schönen Vogelrufe ausstoßend. Ich sehe ihnen gern und lange nach - in mir ist manchmal auch eine tiefe Zugvogelsehnsucht, und doch hänge ich an diesem Erdenfleckchen hier.

Ich arbeite wieder viel im Garten in diesen schönen Tagen. Es ist einiges vor einem möglichen Frost und vor dem Raubüberfall durch die Feldmäuse einzubringen. Ungefähr 25 Pfund herrliche Möhren, 10 Pfund Zwiebel und fast ebensoviel schon beinahe reife Tomaten habe ich neben einigen Kleinigkeiten noch eingebracht. Da dies alles selbst und ganz allein gezogen ist, kannst Du Dir denken, welch eine stolze Genugtuung das bedeutet. Mein Erdbeerbeet, das schon ganz verwildert war, habe ich völlig aus- und umgegraben und neu gepflanzt, damit es im nächsten Frühjahr umso ertragreicher wird. Welch optimistische Planung - nein , ich habe oft genug dabei den Gedanken: ob all diese Arbeit überhaupt noch Zweck haben wird. Aber ich liebe diese Art körperlicher Anstrengung in Luft und Erde, bei der man sich so herrlich austoben kann. Man wird so wundervoll müde - und doch gleichzeitig geistig wach und aufnahmefähig. In den abendlichen Dämmerstunden habe ich immer Musik, das Erlesenste vom Deutschlandsender

und dazu leuchtet jetzt mit dem letzten Tageslicht der fast volle Mond so traumhaft schön in mein Zimmer, dass ich in eine ganz verzauberte Stimmung gerate. Denke Dir Haydn und Mozart - wenn Du doch in einer solchen Stunde einmal da wärst, lieber Theo! Ich stelle mir Deine glückliche Begeisterung vor. -- Es ist allzu hart, dass Du mit in das Schicksalsrad dieses Krieges gezwungen bist. Selbst in aller Versunkenheit fühle ich tief die Sorge um Dich. -

Gott weiß, wo Du sein magst. Ich liege täglich über er Russland-Karte und suche, welchen Weg Du vermutlich machen mußt. Zuletzt las ich einen Bericht: „Absetzbewegungen über den Dnjepr, Sprengung der Brücken bei Krementschug“. Das liegt auf geradem Weg von Charkow zurück, vielleicht bist Du an dieser Stelle mit dabei gewesen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mir bei solchen Nachrichten zumute ist - es muß furchtbar dort zugegangen haben. Aber wo es auch gewesen sein mag, ich hoffe dennoch, dass Du gut und heil über den Dnjepr zurückgekommen bist - wie wundervoll wäre es, Dich wieder einmal außer aller Gefahr zu wissen.

Ob bald wieder ein Brief von Dir kommen wird? Ich sehne mich sehr danach. Mir ist immer, als müsste ich in dieser Zeit etwas für Dich tun, was Dir besondere Freude macht. Gleich will ich noch Nüsse ausschälen für Dein nächstes Paketchen, das in einigen Tagen auf den

Weg kommen soll. –

Du lässt ja meine Paketmärkchen nicht zu Ende gehen, lieber Theo? Ich habe nur noch 3 Stück, da musst Du mir nun recht bald neu schicken, ja? Ich würde mich sehr darüber freuen, das weißt Du. Kommt wohl trotz der schlimmen Verhältnisse alle Post von mir in Deine Hände, alle Briefe?

Heute wundere ich mich, dass mir noch kein Alarm ins Schreiben gekommen ist. Hier geht es recht unruhig zu in letzter Zeit, Tag und Nacht oft mehrmals Alarm, und es erfolgen nun schon am Tage, ganz nach Belieben, große Angriffe, die sich mittlerweile nicht mehr nur auf eine Stadt, sondern hin und wieder auf eine ganze Provinz ausdehnen. Augenblicklich habe ich wieder das bedrückende Gefühl, dass auch hier nichts mehr stehen bleiben wird. Die Sache nimmt ja immer ungeheuerlichere Formen an. Und eine Darstellung erfährt alles Geschehen, auch von den Fronten, die in krassem Widerspruch gegen die zeitweiligen sachlichen Berichte steht - man faßt sich an den Kopf! Welch ein Manövrieren in jeder Hinsicht und überall. Wie wird dieser Wirrwarr sich endlich lösen?—

Lieber Theo, Du schreibst mir doch recht bald wieder? Ich wünsche Dir herzlich, es würde ein glückliche Fügung dich bald in die Heimat zurückbringen. Gott schütze Dich!

Ich grüße Dich ganz herzlichst -
Deine Röschen.