Theo Hoffmann an Freundin Rosalie Schüttler, 8. November 1942

Rostow 8.11.42

Liebes Röschen,

ich freue mich immer wieder auf Deine Briefe. Es ist schön, sie zu öffnen und sie langsam und bedächtig zu studieren. Studieren, ja das ist es eigentlich nicht, sie zu genießen, sich ihrer zu erfreuen, soviel steht darin. Bei keinem der vielen Briefe, die ich so erhalte, habe ich das Gefühl, Wesentliches zu empfangen, außer den Briefen meiner Eltern, wo jedes einzelne Detail, vor allem die Kleinen des Glücks und Unglücks, Gesundheit und Krankheit , so überaus an Wert gewinnt. Wie verständlich ist das, wo sie die einzigen sind, denen ich durch enges und engstes leibliches und seelisches Band verbunden bin. Mein Elternhaus ist hier unendlich weit. Was verdanke ich nicht ihm, die Freiheit des Geistes, die Toleranz in der Erziehung, Güte und Nachgeben gegenüber dem wachsenden jungen Menschen, der sich eigenmächtig gegen den Strom der Zeit seinen Weg sucht. Der bis in die Nacht und den frühen Morgen durchwacht, sich erschöpft, um in dem Rausch der Erschöpfung, in höchster , letzter Anspannung sich selber zu erfühlen, von der Gewalt letzter, großer Erkenntnisse sich bewegen, überwältigen zu lassen. Wie oft war ich dem physischen Zusammenbruch nahe, wie oft pflegten sie mich und waren so besorgt – für den im Grunde so für die äußere Welt Untätigen.

Man ließ mich morgens schlafen, man fragte nicht nach meinen Pflichten, nicht einmal nach denen der religiösen Art. Was will das nicht heißen bei einer gut katholischen Bürgerfamilie – man duldete es, dass ich seltsame Wege und ausgefallene Ideen entwickelte, sie lebte – wenn nur einigermaßen der äußere, vorgeschriebene Lebenslauf eingehalten wurde.

Wie oft war ich innerlich bewegt, dass ich kein Wort herausbringen konnte. Wie oft war ich innerlich verzagt, so gewaltsam mitgerissen, dass sie mein Auditorium wurden - willig.

Manche Diskrepanz zwischen Realität und entwickelten Ideen, die dem kleinen, hämischen Mann sogleich auffallen, wurden ignoriert, aus der Erkenntnis und der Grundhaltung heraus: die Jugend ist guten Willens ,aber noch nicht fertig.

Die Abwesenheit allen Dualismus, die an Horaz gemahnende aurea mediocritas, wie wohltuend war das alles! Man ließ mich meine Freiheit im Inneren wie im Äußeren leben – und wenn ich jeden Abend ausging, ein wenig zu tanzen – oder sonst eine Dummheit zu machen. Ich war völlig verwöhnt, brauchte mich um nichts zu kümmern, aber diese enorme Freiheit und Sorglosigkeit hat mir erst die Muße ihrer Betrachtung und die Möglichkeit gegeben, Körper und Geist schonungslos

 

zu peinigen, ihm zu huldigen, um den letzten Saft aus allem heraus zupressen, - ohne zu scheitern, Schaden an Leib und Seele zu nehmen. Wieweit bin ich noch von dem damals in späten Nächten gesehenen, von der Erfüllung meiner selbst entfernt. Entweder mache ich noch einen großen Schritt, werde das, was ich ersehne – oder ich falle zurück. Eines ist jedenfalls sicher: irgend ein wichtiges Element fehlt noch, ich leide manchmal darunter, dass es schwer wird, vor mir selbst zu fliehen. Ich fliehe in alltägliche Kleinigkeiten, Nichtigkeiten, nur wurde mir selten bewusst, dass dies eine Flucht ist, ein Nichteingestehen entscheidender Schwächen, ein Signum der Haltlosigkeit. Wann werde ich diesen Punkt überspringen? Wann beginnt die Ernte?

Hier ist die Lage unverändert. Das Lazarett ist im Aufbau, infolgedessen alles noch kalt und nicht recht bewohnbar. Diesen dauernden, schmerzhaften Durchfall, die sogenannte russische Krankheit, bin ich noch immer nicht los – es schwächt einen sehr. Auch hier mache ich plötzlich die Feststellung, dass ein geringer Schwächezustand das Selbstbewusstsein beeinträchtig, lächerlich - , sobald man sich dessen bewusst wird, ist der Fehler bei-

nahe behoben! Mein Appetit ist sehr groß – sehr verständlich, da die Ausnutzung gering. Das Essen ist nicht so gut und so reichlich (!) wie in Stalino. Infolgedessen füllen Deine Plätzchen meine Lücken auf. (Habe erhalten 3x Plätzchen, 1x Kuchen – im ganzen 2x – 2x Birnen – die wundervoll mundeten – eine andere Sendung Birnen war unbrauchbar – 1x Zigaretten aus Berlin und heute Seife – wie habe ich diese nötig, vielen, vielen Dank!)

Noch ein Wort zu den Päckchen: Ihr Inhalt ist immer exzellent, c’est délicieux – würden die Franzosen sagen. Sie sind in einer Art zurechtgemacht, die mich immer wieder erstaunt: solch eine liebevolle Gediegenheit! –

Deine Ausführungen über Berlin waren sehr interessant und fein geschrieben. Diese Atmosphäre der Gepflegtheit und Eleganz in dieser Ausschließlichkeit, Du könntest sie in Friedenszeiten in Paris in allen Winkeln finden vom Champs Elyseés bis zum Montparnasse. Das Café auf der Strasse ist eine typisch französische Einrichtung und erst nach dem Kriege (!) nach Deutschland gekommen. In Friedenszeiten am Place de l’Opéra oder auf den Champs Elyseés die elegante Menge vorbei defilieren zu sehen, war höchster Genuss. [???] Im Übrigen

meine Zeit hier ist völlig ausgefüllt. Morgens fahre ich mit einem eleganten Wagen durch Rostow und halte Revierstunden bei anderen Einheiten ab – solange wir noch nicht arbeiten – a la longue ennuyeux. Dann fahre ich hier in das russische Zentralkrankenhaus, welches wir übernommen haben. Eine Masse medizinischer Bücher organisiert in russisch, französisch und deutsch – interessante , internationale Fäden zu beobachten. Dann außerdem einschlägige politische Literatur. Du kannst Dir denken, wie fesselnd das ist. Außerdem stehe ich in Verkehr mit einem Russen (-Ingenieur, Anti-Sowjet) aus einer reichen Bürgerfamilie in Rostow vor dem Weltkrieg, nach dem Kriege veramt und nicht sonderlich gelitten bei den Kommunisten – verständlich, wie gleichen sich die Bilder. -

Er hat sein Jugend in der französischen Schweiz – Lausanne, Genf – und auf Reisen verbracht – Nizza, Monte Carlo - er spricht ein exzellentes Französisch.

Quel siècle, nous avons dit, la noblesse a disparu, de l’un coté et de l’autre on anéantit la liberté, l’individu, c’est la crise de l’occident, la mort «des ames sensibles».

Nebenbei, Rachmaninow hat 1917-19 in Rostow gelebt. [Übersetzung:] Deine Fortschritte in der französischen Sprache freuen mich sehr, höre Dir die Franzosen

von Zeit zu Zeit am Radio an, da sind einige Ansager, die eine wunderbare Aussprache haben voll von Zucht und Eleganz. Die französische Sprache ist und bleibt dieSprache. Auch hier kann ich das wieder feststellen. Nichts entbehre ich hier so sehr wie die Musik, diese Klangwelten, die mich berauscht haben, sie bewegen mich immer wieder, kommen mir immer wieder in den Sinn. Wir haben hier zwar zwei sehr schöne Flügel, auf denen ich hin und wieder improvisiere, doch was ist das alles gegen einen Satz eines Symphonie-Konzertes in vollendeterInterpretation. Welch eine unerhörte Steigerung künstlerischer Vollendung bedeutet diese: auch ich kann es gar nicht sagen, welche Aspekte, welche Fernwirkungen tun sich auf, welch ein Hochgefühl des Lebens, geistiger Leistung! Weißt Du, was mich auch interessiert? Furtwängler: Brahms -Bruckner bei Reclam (70 Seiten). Könntest Du es mir zuschicken? Es ginge z.B. durcheinen Soldaten in Köln – er adressiert es von seiner Einheit zu der meinigen gehend – da besteht ja keine Postsperre – also von Feldpostnummer zu Feldpostnummer. Solltest Du es bekommen, lies es, bevor Du es mir schickst. Zufällig machte ich gestern in einem Kommissionsladen die Bekanntschaft des Chefs des Sanitätswesens der rumänischen Armee im Süden. Er wollte Orient-Teppiche kaufen – sehr teuer 1500-2000 Mark – und ich Schallplatten. (Habe nebenbei einige sehr gute Aufnahmen erwischt: II. Quartett von Borodin, Szene aus der wunderbaren Oper „Eugen Onégin“ von Tschaikowski, (Lieder von Tschaikowski und R.-Korssakoff nach Texten von Tolstoi und Puschkin.)

Desgleichen aus seiner Oper „Jolanthe“. Und von einer hier sehr bekannten, uns Deutschen kaum geläufigen Oper „Der Dämon“ von N. Rubinstein, dem Gründer und Vater der Moskauer Schule - außerdem noch Glasunow.-

Also nur zufällig, er kam im Flugzeug von Stalino, wir verstanden uns ausgezeichnet – natürlich in französisch - . Er sprach ein elegantes, prononziertes, geschliffenes Französisch. Er hat gute Beziehungen zu unserem Armeestab. Vielleicht, vielleicht, dass er mir einmal von Nutzen sein könnte.

Er hat eine große chirurgische Klinik in Bukarest, er hat mich eingeladen, ihn in Bukarest zu besuchen und möglichst bald, da er nur vorübergehend in Russland weilt und vor Weihnachten noch für dauernd nach Bukarest zurückkehrt. Man sollte niemals solche Beziehungen vernachlässigen.

Heute kam ein Paket R- 6 an, 1x Plätzchen und das schöne, kleine Buch „Hermann und Dorothea“ . Wunderbar der Wohlklang der Sprache, der an Homer gemahnende Rhythmus. Welch eine Welt: Wie ist das Ferne darin so nah und das Nahe darin so fern. Welch ein Geist war dieser Goethe, welch ein Abstand zwischen uns und ihm!

Was mich an Daumiers: „Ansicht von Köln“ so bezaubert ist der in epischer Breite dahinfließende Rhein und das dahinter majestätisch- lieblich aufsteigende, ferne Siebengebirge. Bei klarem, durchsichtigem Wetter kann man es zuweilen von Köln sehen. Es ergriff mich immer wieder, rührte mich zu Tränen. Warum? Es ist Heimat, meine Heimat, es ist mir eine Landschaft der Seele, Kampf um Heimweh über Fernweh schmerzt einen so süß. Und dann dieses Köln um1700. Es gemahnt heute nur noch weniges

an das Alte, und doch ist ein Hauch von ihm da; ich bin mir dessen immer bewusst gewesen, wenn ich so durch Köln schlenderte, an einsamen Sonntagnachmittagen, ich war bewegt, wenn ich das kindliche Spiel der Kleinsten auf der Strasse sah, das fröhliche, unbeschwerte Glück der Jugend, die gelassenen, behäbigen Spaziergänge der Alten, und ich gedachte der gleichen unbeschwerte Jugend der alten Stadt, als am Hahnentor und Friesentor schon dichte, grüne Wälder begannen, ich gedachte einer kommenden Katastrophe, der glücklichen, unbeschwerten Jugend einer späteren Zeit – und mich ergriff eine unsagbare Traurigkeit und Sehnsucht nach dem Tod, nach dem Trost der Vernichtung. Hölderlin kam über die Lippen:

“Er erschrickt uns, unser Retter der Tod, sanft kommt er bald im Gewölke des Schlafes, aber er bleibt fürchterlich.“ –

Der Schlusssatz aus der 4. Sinfonie von Brahms, die 32 Variationen über 8- taktige Themen, eine monumentale, stilisierte Todespforte. Der Eingangs und Schlusschor aus der Matthäus-Passion. Der Choral: „aus der Tiefe rufe ich zu Dir, o Herr“ - großartige Trauer, überragend in ihrer Größe. Die „Winterreise „ von Schubert, stille Trauer, ergreifend in ihrer Inbrunst des Schmerzes. -

Wie haben mich diese Welten überwältigt, wie bin ich durch sie gewachsen, will ich weiter wachsen, reifen: doch wird man es zulassen?

Wie wundervoll tröstlich ist da „Der gute Glaube“ von unserem Hölderlin:

Schönes Leben! Du liegst krank und das Herz ist mir
Müd vom Weinen und schon dämmert die Furcht in mir,
Doch, doch kann ich nicht glauben
Dass Du sterbest, so lang Du liebst.

 

Es ist nicht die Angst um das physische Sterben, es ist die Angst des Zusammenbruchs vor der inneren Vollendung, das Erlöschen der alles bewegenden Unruhe. Die Leidenschaft vor ihrer göttlichen Erfüllung.

Ein mir schon vorher bekanntes Gedicht. Hölderlin habe ich jetzt letztlich begriffen, höre es:

Dem Sonnengott

Wo bist du? trunken dämmert die Seele mir
Von aller deiner Wonne; denn eben ist’s,
Dass ich gesehn, wie, müde seiner
Fahrt, der entzückende Götterjüngling

Die jungen Locken badet' im Goldgewölk';
Und jetzt noch blickt mein Auge von selbst nach ihm;
Doch fern ist er zu frommen Völkern,
Die ihn noch ehren, hinweggegangen.

Dich lieb' ich, Erde! trauerst du doch mit mir!
Und unsre Trauer wandelt, wie Kinderschmerz,
In Schlummer sich, und wie die Winde
Flattern und flüstern im Saitenspiele,

Bis ihm des Meisters Finger den schönern Ton
Entlockt, so spielen Nebel und Träum' um uns,
Bis der Geliebte wiederkömmt und
Leben und Geist sich in uns entzündet.

Zerrissenheit ob des Sonnenuntergangs.
Hast Du es auch schon einmal empfunden,
nach einem langen, strahlenden Sommertag? Sicherlich.

Man kann sich nicht trennen vor Ergriffenheit von diesem Bilde, man sieht es einbrennen, unwiederbringlich geht es dahin.

Und nun wie großartig! Wir kennen Dich nicht, wir achten die Sonne nicht, „mühelos und hell ist sie unter den Mühsamen aufgegangen.“

Trauer der Erde, Trauer des Abends, alle Qual der Erdenexistenz – alles, was sich abmüht und was zuvor geweint – wandelt in Schlummer sich.

Und dann entzückend der frühe Morgen, der leichte, liebevolle Halbschlummer „es spielen Nebel und Träume um uns“ das kraftvolle, ausgeruhte Selbstgefühl und Selbstbewusstsein des neuen Tages

Welch ein Kreislauf in der früh weisen Einsicht seiner zarten Jugend, fernab aller Geschäftigkeit, die uns umnebelt und dem Wesentlichen fernhält.

Oh Dir, dem wir verfallen sind – wie sagt unsagbar traurig der junge Hoffmannstal: „und immer wieder vernehmen wir und werden viele Worte, und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder“, wunderbar wie Hölderlin sich gegen die alles erdrückende Trauer verteidigt, die Klage in eine überwältigende, alles durchscheinende, religiöse Trauer verwandelt; welch ein Hymnus, welch ein Mensch!

Ich habe eben noch eine Idee für Deine langen Winterabende. Sehe doch einmal zu, ob Du nicht irgendwo her einen Schallplatten-Apparat auftreiben kannst zum Anschluss an Dein Radio, das ist ja akustisch ganz gut und holst Dir aus der Musikbücherei Mauritiussteinweg (Rheinisches Konservatorium) haufenweise gute Platten und Partituren. Man hat da gute Platten, das Leihen ist spottbillig. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, welch ungeahnter Genüsse Du teilhaftig wirst, besonders wenn Du ein großes oder schweres Werk mehrmals anhörst. Ich berate dich gerne, was Du nimmst, wie Du es aufnimmst, und wir können in unseren Briefen darüber sprechen, so als ob wir zusammen wären, als ob wir zusammen hörten, berauscht wären. Ich bin es in Gedanken wie in der Tat, aber es ist beides gleich. Denn es sind ja nicht die Töne allein, es ist der Geist der Musik, die Welt des Unendlichen, des Jenseitigen. Und zwischendurch hörst Du einmal von Zeit zu Zeit von einer fernen Station, London, Paris, Bukarest, Basel ein Dir bekanntes oder unbekanntes Werk mit einer Einführung selbst einer Dir nicht ganz verständlichen Sprache, ca ne fait rien, welch ein Gefühl der Weltweite gibt einem das! –

Ich will zum Schluss kommen. Noch eines: ich habe meine Uhr für teures Geld (30 M ) reparieren lassen. Sie läuft jetzt wieder tadellos, Gott sei Dank; Du brauchst Dir also keine Mühe mehr zu machen, mein Wunsch war immerhin sehr anspruchsvoll.

Ich hoffe, dass dieser Brief unversehrt in Deine Hände kommt, lebe recht herzlich wohl, sei glücklich, sei nicht allzu leicht traurig, lebe, genieße, vollende Dein Leben, blicke zuweilen nach Osten wie ich nach dem Westen blicke, und wir begegnen uns in dem Schein der wiederkehrenden und untergehenden Sonne und in dem Leuchten der ewigen Sterne.
Dein Theo

Übers.: goldene Mitte
Übers.: auf Dauer langweilig
Übers.: Welch ein Jahrhundert, haben wir uns gesagt, die Würde ist verschwunden, auf beiden Seiten vernichtet man die Freiheit, das Individuum, das ist die Krise des Okzident, der Tod „der empfindlichen Seelen“.
Ende des Schluss-Satzes: Neben wilde Verzweiflung tritt dumpfe Resignation , die die unerbittliche Größe eines unabwendbaren Schicksals anerkennt.(aus : Knaurs Konzertführer, München 1956)
Übers.: Das macht nichts