Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 16. April 1943

16.4.43

Lieber Theo!

Heute habe ich außerordentlich wenig zu tun im Büro, und ich kann die Zeit nicht schöner verbringen als Dir einen kleinen Gruß zu schreiben. - Am liebsten möchte ich Dich zuerst wieder fragen: wie geht es Dir , und wie verläuft Dein Leben jetzt, meine Gedanken sind ununterbrochen bei Dir. Ich sitze wieder in meinem sonnigen Erker, nachdem ich den Winter über wegen der größeren Wärme auf die Hofseite umgezogen war. Hier fühle ich mich bedeutend wohler, der Blick ist nicht so beengt, und es ist lauter Licht und Sonne um mich. Endlich ist auch der Fliegerschaden völlig behoben, indem wieder Gardinen an den Fenstern sind, sodass ich es nun recht wohnlich hier habe. Ich sehe hinaus auf den Ring und beobachte die Strasse und die Vorübergehenden, das ist immer interessant, und es geschieht auch eigentlich immer etwas, kleine, belanglose und doch nette Begebenheiten mit Menschen und Tieren, ja sogar mehr oder weniger böse Unfälle sind hier an der Tagesordnung. Du kannst Dir den Ring, diese größte Straße unserer Heimatstadt gewiß recht gut vorstellen, wie sie mittags voll Sonne liegt und erfüllt ist von lebendigem Lärm mit all ihren

Geschäften, Cafés, Gaststätten und Kinos, den Neuerscheinungen an modernen Straßenbahnen und all der anderen Fahrzeuge - schließlich das vielfältige Bild der Menschen: gut, schön, komisch und hässlich aussehende. Wenn man so von oben darauf herabblickt, ist es ein unterhaltsames Spiel, sich ihre Schicksale auszudenken. Zuweilen ist da eine Frau mit einem Soldaten und man sieht, es ist ein Urlauber, und beide sind im Augenblick glücklich. Man sieht viel Uniformen, elegante und schäbige, und was immer wieder mein Herz zittern lässt - viele Soldaten auf Krücken. Oh diese geschändeten Menschen, sie wissen ja meist noch nicht, was ihnen geschehen ist. Du hat sie doch jetzt immer unter den Händen, ist das nicht oft recht hart und schmerzlich für Dich? Ich denke an die Schuldigen, die gar noch gepriesen und gefeiert werden. Mein Bruder ist auch bereits abgestellt für Rußland, ich bin recht traurig darüber, hoffentlich wird er alles gut überstehen. - Zuweilen zieht eine Abteilung Soldaten hier vorüber, singend und mit schallenden Schritten. Das bringt immer die Tage von Iserlohn in meine Gedanken, wo Soldatenlieder und Marschtritt zu allen Tages- und Nachtstunden gehörten. Bald ist es ein Jahr, seit ich Dich zuletzt gesehen habe. Wie oft springe ich auf und gehe nah

zum Fenster, um einem Menschen nah ins Gesicht zusehen, der aus der Ferne Du sein könntest. - Eins wird in Deiner Erinnerung an diese Strasse fehlen: wie die Häuserreihen immer wieder unterbrochen sind von Ruinen. Man hat jetzt den Schutt in die leeren Mauern geworfen und die Straßenfronten etwa 2 Meter hoch zugemauert, um wieder ein wenig Ordnung zu haben. Es ist aber dennoch ein trauriger Anblick.

Ein anderes sind die vielen Ausländer, die jetzt schon ganz selbstverständlich die Strasse beleben, und die ich voller Interesse beobachte - wie einmal anscheinend Franzosen, sich mit zwei ausgestreckten Fingern begrüßten, in dieser Form: V . Dass dieses Zeichen kein Wunsch für uns ist, kann man wohl ohne weiteres annehmen. So abwechslungsreich es aber hier auch sein mag, die grausteinernen Häuser bedrücken mich oft. Wie können die Menschen darin leben, ohne Baum und Blüten und grünes Feld zu sehen - ich sehne mich nach Hause, wo die Gärten jetzt goldgrün leuchten und alles versinkt in Blüten.

18.4.

Seit gestern ist mein Paketchen an Dich unterwegs lieber Theo, und ich will hoffen, dass es gut in Deine Hände kommt.

Sag mir bitte, ob es gut gegangen hat. Ich wäre sehr glücklich, wenn es Dir ein wenig Freude mache würde. Zigaretten werde ich Dir noch im Brief schicken, denn die ich hatte, musste ich als Botenlohn verwenden, sie sind im Augenblick so schwer zu bekommen, hoffentlich sind sie Dir nicht so wichtig. Gern hätte ich Dir ein Stückchen Seife mitgeschickt, wenn ich ganz sicher wäre, dass das Paketchen auch in Deine Hände kommt. Die drei letzten Stücke, die ich noch habe, sind nun so kostbar geworden, dass ich es Dir lieber auf direktem Wege schicken möchte. Kommen die kleinen Päckchen wieder pünktlich bei Dir an? Dann werde ich Dir sofort die Seife schicken, Du kannst sie vielleicht wieder brauchen. Oder hast du wohl noch einmal Paketmärkchen für mich übrig? Du weißt, dass ich mich darüber besonders freuen würde, vor allem wenn Du mir wieder einmal sagen würdest, was Du Dir wünschst. Es hat mich so sehr gefreut, das ich Dir endlich das Furtwängler-Büchlein mitschicken konnte. Am Abend vorher war es gerade noch vom Verlag gekommen. So habe ich es zwar nicht mehr ganz lesen können, weil ich es nun auch unbedingt dem Päckchen beilegen wollte. Den ersten Teil, über Brahms, habe ich noch gelesen - und gern habe ich es gelesen. Wie liebevoll ist über Mensch und Werk ausgesagt. Es weckt

eine beglückende Empfindung, solch begeisterte Worte über einen verehrten Menschen zu hören. - Heute morgen war im Radio eine wunderbare Beethoven-Feier. Du würdest Sie voll Freude gehört haben! Mathias Wiemann hat mit tiefer Empfindung das Heiligenstädter Testament gesprochen, diese erschütternde Klage, die einem den Grund der Seele aufwühlt. Bei der Musik aus der 5. Und 7. Sinfonie ist mir dann noch deutlicher bewußt geworden, welch ein furchtbares Los die Taubheit für diesen Menschen war, dessen ganzes Leben nur Musik gewesen ist. - Den Trost der Musik lerne ich erst jetzt so recht kennen, sie ist das einzige, was mich noch ein wenig freuen kann. Mein Leben wird immer stiller und einsamer, seit Du mich allein lässt - es ist sehr hart, doppelt schwer in diesen unvergleichlichen Frühlingstagen, da alles so froh erscheint. Es ist eine überschwengliche, überwältigende Frühlingsseligkeit draußen, ein solch intensives Blühen und Duften, dass es einen ganz trunken macht.

Überall weiß und rosa und fliederfarben über dem hellen, jungen Grün und unten tiefgoldene Sonne. Ich wünsche, Du könntest einen einzigen Blick durch mein Fenster hinaustun, es ist eine unbe-

schreibliche Pracht. Solange ich denken kann, gab es keinen solchen Frühling, niemals haben sämtliche Obstbäume und der Flieder gleichzeitig geblüht. Die Luft ist überladen mit Düften. Ich habe lange auf meiner Gartenbank unter den Kirschblüten gesessen und den Bienen gelauscht. Ihr Summen ist wie ein einziger dunkler, unendlich wohltuender Harfenton. Du müßtest da sein, lieber Theo. Es ist fast, als wollte die Natur im Gegensatz zu dem Vernichtungswerk der Menschen einmal ihre ganze wunderbare friedliche Macht und Größe zeigen. Ich schicke Dir eine Apfelblüte, die schönste unter den Obstblüten- und ein Frühlingsgedicht...in einer Mondnacht möchte ich es Dir vorlesen.

 

[Beigelegtes Gedicht aus einer Zeitung von Josef Weinhebe: „Sylphide“:]

Sylphide

Süße Gefährtin von Mond und nächtlichem Winde,
wie schwebst du im Traum der schlummernden Blumen.

Wo die Quellen sind, wo die Wurzeln
raunen, webst Du den Frühling.

Zweige, gestreift von deinem schwerlosen Schleier,
tragen am Morgen Blüten. Starrem Gespinste,
welches dein Hauch berührte, entgaukeln
gold- und samtene Falter.

Niemals sehen dich jene, die in den Herzen
Tod und Gemeines brüten, finstere Menschen.
Doch Deinem Wesen verwandt, im tiefsten
traumhaft, ahnt dich der Dichter.

Wie du, den Sturm in den Krone sänftigend, silbern
gleitest ins Dunkel, ewig unfaßbar, ewig
lockend versinkst in den Traumgrund des Ursprungs,
bist du bereit deinem Gotte.

 

Ist es nicht schön? Leg es in Dein Hölderlin-Buch, ich glaube es ist nicht ganz unwürdig.

Ich würde so gern wissen, wo Du jetzt lebst lieber Theo, wie die Landschaft aussieht, die Stadt, und wie Du sie erlebst, möchte ich wissen, was Du tust und denkst, ob Du froh und gesund bist und glücklich in Deiner Arbeit und Deinem Erleben. Ich meine immer, du müsstest bald einmal heim-

kommen. Viele Soldaten sind jetzt in Urlaub hier. Das ist ein großer Trost und Auftrieb für die Menschen in der Heimat. Man ist anscheinend im Augenblick freigebig mit Urlaub. Überhaupt ist eine grosse Aufmunterungscampagne im Gange mit Sonderzuteilungen, Feiern, Beförderungen usw: Ich finde, die Goethe-Medaille verliert mit der Zeit an Wert, es vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht verliehen wird. - Von der Ortsgruppe habe ich für meine Mitarbeit drei Büchsen Fisch überreicht bekommen. Ich war gebührend gerührt. Kürzlich wollte man mir die Markenverteilung abnehmen, weil nur PG dies machen sollen, aber dann fand man keinen, der eine vernünftige Abrechnung aufstellen konnte, und so blieb die Arbeit bei mir. Aus manchen Gründen ist mir das ganz lieb, ich kann immer sagen, dass meine Zeit ganz ausgefüllt ist. Ich brauche meine Stunde für mich selbst.

Lieber Theo, ich möchte Dich so gern bitten, denke ein wenig an mich - es wäre mir so notwendig, wieder Deine lieben Briefe zu bekommen.

Gott behüte Dich!
Deine Röschen

Die Kathedrale

- in jenen kleinen Städten kannst Du sehn,
wie sehr entwachsen ihrem Umgangskreis
die Kathedralen waren. Ihr Erstehn
ging über alles fort, so wie den Blick
des eignen Lebens viel zu grosse Nähe
fortwährend übersteigt und als geschähe
nichts anderes, als wäre das Geschick,
was sich in ihnen aufhäuft ohne Massen,
versteinert und zum Dauernden bestimmt,
nicht das, was unten in den dunklen Strassen
vom Zufall irgendwelche Massen nimmt
und darin geht, wie Kinder grün u. rot
und was der Krämer hat als Schürze tragen.
Da war Geburt in diesen Unterlagen,
und Kraft und Andrang war in diesem Ragen
und Liebe überall wie Wein und Brot,
und die Portale voller Liebesklagen.
Das Leben zögerte im Stundenschlagen,
und in den Türmen, welche voll Entsagen
auf einmal nicht mehr stiegen, war der Tod.