Theo Hoffmann an Freundin Rosalie Schüttler, 3. November 1943

3.I. [richtig: XI.] 1943 [Poststempel: 16.11.43]

Liebes Röschen,

bisher haben wir den russischen Angriff, den ich Dir in meinem letzten Brief am Rande anonncierte, abwehren können, ja sogar, es ist ruhiger geworden, aber ich erwarte hier, 300 m vor den russischen Linien liegend, täglich eine überraschende nouvelle katastrophe. Wir bauen jetzt eifrig an einem Bunker, es ist ein Leichtsinn, in den leicht gebauten Häusern zu bleiben, bei diesem dauernden Artillerie-, Panzer-, Granatwerferbeschuss samt der russischen Stalinorgeln. (36 Einschläge auf einmal auf relativem kleinem Raum mit furchtbarem Getöse alles einreißend) Vorige Nacht wurde mein Sanitätsdienstgrad verwundet. Neuerdings werfen die Russen Flugblätter ab, in denen sie sich einzeln an uns wenden namentlich – ich bin auch genannt – die Brüder sind genauestens orientiert – und zur Übergabe auffordern. – verständlich durch die große Zahl unserer Vermissten, die in ihre Hände fielen. Manche der genannten Gefangenen sind aber schon umgelegt, wie wir unsererseits aus Gefangenen-Aussagen wissen. Ungeheuerlich, wie mit den Menschen verfahren wird, wie sein Menschsein, seine Existenz verachtet wird. Und es musste ja so kommen, und es wird noch ...

Wenn ich daran denke, mit welch einer Sicherheit ich diese Katastrophe voraus gesehen habe, wie es mich quälte und bewegte Tag wie Nacht, wie ich suchte meine Umgebung – d.h. Intelligenz –

zu beeinflussen, zu festigen, und schon damals wurden mir die Menschen in ihrer geistigen Haltlosigkeit, Banalität, Halbbildung – wie ich diese hasse – ein Problem, welches mich aufregte und krank machte. Und ich erkannte dabei, dass die Menschen ihren hohen künstlichen Lebensstandard und die Kultur des Geistes, die ihnen dargeboten wird, nicht begreifen, nicht ertragen können, dass sie dadurch zu Fehlspekulationen und schiefen Betrachtungen gegenüber den Realitäten der Natur, des Geistes und des Menschseins verleitet werden: Sie haben sich los gelöst von den Ursprüngen des Daseins, ihre geistige Reife hält nicht Schritt mit dem komplizierten Apparat, den sie sich aufgebaut haben, sie haben ein Zuwenig an Substanz. Daher diese erschreckende Unwissenheit, geistige Bestechlichkeit und unbewusste tiefe Ratlosigkeit, die durch Skrupellose teuflisch und ganz bewusst - letztere sehen bei dem sicheren Verlust ihres Spiels darin ihre einmalige psychologisch-historische Bedeutung, auf dass sie nie vergessen werden, als noch bleibenden Ruhm um jeden Preis – ausgenutzt wird und den Wirrwarr völlig unentwirrbar macht. Die Menschen wollen ihr Ende aus Langeweile an sich selbst. Und dieses Drama, welches sich uns darbietet, so oft erschaudernd erfüllt in der Musik, ich erlebe fast rauschhaft hier diese Tragödie des Zusammensturz der Gewalten in höchster Intensität oder wie Du es nennst, an äußerster Front. Und zuweilen überkommt es mich in äußerster Gefahr wie ein Rausch, wie ein alles überwältigendes Gefühl der Krankheit zum Tod, mich hineinziehen zu lassen in das Nichts, in den Trost der Vernichtung.

Der Deinige
Theo