Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 16. September 1943

16.9. [Poststempel: 17.9.]

Lieber Theo,

vorgestern erst schrieb ich Dir, und heute mittag kam Dein Brief, Dein so bitter schwerer Brief, den ich mit wachsendem Entsetzen gelesen habe - o dass Du nun doch in das grauenhafteste Geschehen hineingeraten bist! Deine Schilderung hat mein Herz fast stillstehen lassen - es tut mir unsagbar weh, dass Du solch entsetzliche Tage durchleben musst, so viel Not und Gefahr und Erkenntnis der Machtlosigkeit. Deine Leiden müssen übermenschlich sein. So hoffnungslos klingen Deine Worte: „Ich muss das Schicksal über mich ergehen lassen“ - Sie haben mich tief erschüttert. Wie oft habe ich Deinen Brief vor mich hinlegen müssen, weil Tränen mich immer wieder am Weiterlesen hinderten. Wie zahllos und unvorstellbar sind die Gefahren, die Dich bedrohen. Ich bin in der verzweifelten Sorge um Dich. Neunzehn Tage war Dein Brief unterwegs - was kann in dieser Zeit alles geschehen sein! Dieser Gedanke stand quälend in mir auf, als ich Deinen Brief

endlich zu Ende gelesen hatte, und ich musste immer wieder flehentlich denken: lieber Gott, Du wirst ihn doch behütet haben - und wirst ihn doch weiter behüten---. Für den Rest des Tages hatte ich mich eingeschlossen und habe die Stunden verbracht: auf meinem Bett liegend oder von einem Zimmer ins andere wandernd mit Grübeln, Bitten zum Himmel um Schutz für Dich, und mit immer erneutem Lesen Deines Briefes. Ich bin so niedergeworfen, dass ich mich gefragt habe, wo denn all meine gläubige Zuversicht geblieben ist. Oft in den letzten Wochen haben mich schlimme Vorstellungen so stark überfallen, dass ich sekundenlang nicht atmen konnte, aber ich habe mich immer gewehrt, habe mich nicht fürchten wollen - bis ich Dir vorgestern schrieb, es ist fast, als hätte ich Deine schwere Nachricht vorgefühlt. Und nun weiß ich kaum, wie ich es tragen soll. Ich bin so müde geworden, aber ich kann nicht einschlafen, ohne Dir erst noch zu schreiben.

Mir ist auch , als müsste ich noch eine Weile mit Dir wachen, Gott weiß, was Du in dieser Stunde vielleicht erleiden musst. -

Ich möchte Dir so gern etwas Frohes, Tröstliches sagen, lieber Theo - aber ich stehe mit ganz leeren Händen vor Deinem Erdloch. Was Dir wirklich helfen kann, liegt wohl nur in Deiner eigenen Seele. - Zu grausam muss es doch sein, das Leben, das große, edle, so sehr zu lieben und sich immerfort gefährdet zu fühlen, den Menschen zu lieben und ihn , den „Tempel Gottes“ neben sich so schändlich vernichtet zu sehen. Ich weiß, dass Du nicht stumpf erträgst.- Es ist ein entsetzlich klares Bild, das Du von allem gibst. Ein Beweis für Deine Beurteilung sind die letzten Ereignisse in Italien. Bedenkenlos wird das Land zum Schlachtfeld gemacht. Ach Theo, ich fürchte, der Krieg wird doch noch lange dauern. Heilig ist den Machtlüsternen nichts. Wenn doch Dich ein gütiges Schicksal bald, bald aus der schlimmsten Gefahr heraus

führen würde! Es ist mir jetzt so recht, dass ich eine Dienstwoche vor mir habe mit viel unschöner Arbeit- ja, es kann nicht widerwärtig genug werden - ich könnte es jetzt nicht ertragen, angenehme Tage zu haben, da Du so Schweres erleben musst.—

Du darfst nicht böse sein, lieber Theo, weil ich so außer mir bin - aber wenn schon fremdes Leid mich zu Tränen bringt, wie viel tiefer muss Deines mich treffen. Dass Du mir alles erzählt hast, so ausführlich und so tiefgreifend, das ist aber auch bei allem mir Trost und ein Hauch von Glück - es ist seltsam ergreifend für mich, dass Du aus Deinem Erdloch heraus mir schreibst. O möchtest Du es bald an einem besseren Platz tun können! Über dem Schreiben an Dich hat sich mein guter Glaube ein klein wenig wieder aufgerichtet. Du musst alles heil überstehen. Gott gebe Dir ein starkes Herz und all seinen Schutz! Wenn es Dir zuweilen ein kleiner Trost sein kann, so weißt Du, dass ich zu jeder Stunde mit heißen Segenwünschen an Dich denke.

Ich grüße Dich herzlich, lieber Theo
Deine Röschen