Josefa Hoffmann an ihren Bruder Theo, 14. Oktober 1943

Köln, am 14.Oktober 1943

Mein lieber, lieber Theo!

Unsere letzte Nachricht von Dir war der Brief vom 16. September. - Gott sei Dank, ich rief soeben zu Hause an und hörte, dass ein Brief vom 1. Oktober von Dir angekommen ist. Ach Theo, käme doch bald ein Brief aus einem ruhigeren Abschnitt!. Unsere Gedanken weilen immer bei Dir. Der gütige Gott hat Dich bisher so wunderbar beschützt, ich vertraue so fest, dass er Dich wieder gesund uns zuführen wird. Unser Mütterlein ist nun auch schon wieder beinahe zwei Wochen in Köln. Es geht ihr gut, nur hat sie immer noch zeitweilig den ziehenden Schmerz in den Händen und manchmal auch in den Armen. Aber sie fühlt sich sehr frisch. Die neun Wochen in den Vogesen haben doch gute Wirkung an ihr getan. Und , was uns alle freut und besonders auch Dich, die Mutter ist jetzt bezüglich ihrer Arbeit ganz brav, sie überanstrengt sich nicht mehr, verrichtet keine Putzarbeit mehr. Frau Dichard kommt nach wie vor dreimal die Woche. Unsere liebe Oma hat sich auch tapfer gehalten. Die neun Wochen, die Mutter von Hause weg war, sind ihr sehr lang geworden, sie hat in dieser Zeit unendlich viel im Haushalt getan. Es ist unglaublich, dass sie in diesem hohen Alter von 91 ½ Jahren noch so viel körperlich leisten kann. Es wäre ja so wunderbar schön, wenn Du sie nach Kriegsende in Deine Arme schließen könntest und wir das Friedensfest gemeinsam feiern. Gott gebe, dass bald, bald Friede werde! Der Herbst schenkt uns in diesem Jahr fast ununterbrochen Tage voll tiefer unendlicher Bläue und strahlendem Sonnenglast, wie sie sonst nur der Juni verschwendet. Von 11 Uhr morgens an ist es so warm, dass man sich nur in leichten Sommerkleidern wohlfühlt. Man möchte diese tägliche festliche Schönheit der Natur als Vorfreude des baldigen Friedensfestes deuten. – Seit den furchtbaren Angriffen, die Du hier mitgemacht, hat Köln keinen Angriff mehr gehabt. Die Angriffe finden jetzt häufig am Tage und abends zwischen 20 und 22 Uhr statt, sodass unsere Nachtruhe seltener durch Sirenen gestört wird. Mittlerweile wurde Frankfurt/Main, Münster i.W., Hannover, Bremen, Stuttgart u.a. teils bei Tage, teils bei nacht schwerst angegriffen. Kürzlich wurde hier in Köln ein amerikanischer Flieger, der seinen ersten Feindflug machte und bei einem Tagesangriff auf Frankfurt abgesprengt wurde und sich unvorsichtigerweise auf Kölner Gebiet begab, abgeschossen. Die Maschine sauste tief über uns hinweg, vier Mann der Besatzung konnten sich durch Fallschirmabsprung retten. Bei einem fand man eine Karte von Deutschland, auf der mehrere Städte, darunter Köln, mit einem roten Kreis umgeben waren. Der Amerikaner gab an, dass die rotumrandeten Städte, die bisher vernichteten seien und daher für einen Angriff nicht mehr in frage kämen. -

Das Theater- und Konzertleben ist wieder rege, nur bekommt man keine Karten. Vorige Woche habe ich der in einem Privathause neu eröffneten „Bücherstube am Dom“ einen Besuch abgestattet und ich bin reich bedacht worden: 1.) Louis de Broglie „Licht und Materie“ mit einem Vorwort des bekannten deutschen Physikers Werner Heisenberg. 2.) von dem Portugiesen Teixeira de Pascoaes „Hieronymus, der Dichter der Freundschaft“. 3.) Carossa „Das Jahr der schönen Täuschungen. 4.) Ina Seidel „Unser Freund Peregrin“. 5.) Fontane „Die Kunst zu leben“. 6.)Bücker „Musikerbriefe“. 7.) Kippenberg (Freund Rilkes) „Geschichte einer alten Hansestadt“. 8.) Waggerl „Wagrainer Tagebuch“.

Eine ganz nette Anzahl, nicht war! Ich weiß nicht, ob ich’s Dir schon schrieb, ich habe in den Ferien ein wunderschönes Buch über Beethoven von Riezler begonnen, das mir Herr Dr. Mollweide geliehen. Das Zauberreich der Kunst, es vermag einen für kurze Zeit aus dem Bann, in den die Hölle des Krieges uns alle geschlagen , zu befreien. Dir wird ja wohl keine Zeit bleiben, in ein besinnliches Buch zu schauen.

Habe ich Dir eigentlich in meinem letzten Brief geschrieben, dass unser gutes Fräulein Merscheid plötzlich gestorben ist? Sie hatte schon seit längerer Zeit mit einem hohen Blutdruck zu tun, vermochte deshalb auch nicht mehr täglich von früh bis spät an der Maschine zu sitzen. Bei einem der Terrorangriffe war ja ihr Häuschen, das ihre Mutter ihr vermacht hatte, fast gänzlich zerstört worden, ein Zimmer stand noch. Dieser Verlust muss sie sehr angegriffen haben, die Aufregungen dieserhalb, u.a. am Kriegsschädenamt usw. werden wohl zu dem Schlaganfall beigetragen haben. Die Oma war von ihrem Tod so erschüttert, dass sie mit Frau Beuth und Frau Dichard – wir waren ja noch in Hohwald – ihr das letzte Geleit auf dem alten Bickendorfer Friedhof geben wollte. Da es jedoch in Strömen regnete, war nichts daraus geworden. Fräulein M. hat den besten Teil erwählt, ihr Alter wäre unter den jetzigen Zukunftsaussichten ein sehr beschwerliches geworden, womöglich hätte sie bis zum Kriegsende auch ihr Häuschen nicht wiedergehabt.

Gestern ist ein Paketchen an Dich abgegangen. Inhalt: ein wundervoller Biskuitkuchen, der auf der Zunge zerschmilzt, Zigaretten, Briefpapier. Heute geht die andere Hälfte des Kuchens ab. Du brauchst Dir übrigens keine Sorgen um unsere Ernährung zu machen, bisher haben wir noch keine Grund zum Klagen gehabt und werden deshalb Deine Paketchen – falls sie alle ankommen – für schlimmere Zeiten aufsparen. Schreibe uns doch bitte, ob wir Dir ein Paar Pelzhandschuhe schicken sollen. Jetzt ist es doch sicher bei Euch schon empfindlich kalt. Hast Du wieder Ersatz für Deinen zerstörten Wagen? Schreibe uns doch, so oft Post in die Heimat geht, kurz, wie es Dir geht, denn ich glaube, es geht auch manche Post verloren, damit wir nicht so lange auf ein Lebenszeichen zu warten brauchen.

Vroni Beuth hat sich sehr über Deinen netten Brief gefreut, sie war morgens gleich, nachdem sie ihn erhalten hatte, zur Oma herübergegangen, um ihr dies mitzuteilen. Alles Beuths lassen Dich herzlich grüßen. Tony Wynen geht es ausgezeichnet, er erkundigt sich auch sehr häufig nach Deinem Ergehen. Frau Güttelhofer, deren Mann vor zwei Monaten an einer Lungen- und Rippenfellentzündung – der stellvertretende Arzt von Herrn Dr. Kleinsorg hatte die Stiche und Schmerzen in den Rippen als Muskelschmerzen angesehen und ihnen keine Bedeutung beigemessen – verstorben ist, lässt ich auch wärmstens grüßen. Die arme Frau ist ganz gebrochen. Se selbst läuft jetzt auch mit einer Rippenfellentzündung herum und kann sich nicht schonen, weil sie keine Hilfe hat und außerdem noch eine alte Tante, die ihr wie eine Mutter nahe steht und ihr bis vor kurzem eine große Stütze im Haushalt war, jetzt aber schwer krebskrank ist, zu pflegen. Ihr 17-jähriger Sohn, der mit der Schule bei der Flak kaserniert ist, wird wohl auch bald eingezogen werden. So ist heute wohl jedes Auge in Tränen gebadet und die Erde wohl noch zu keiner Zeit so unendlichen Jammers voll gewesen wie heute. Dieses Leben lässt sich nur im Glauben an das einzige Heil des Kreuzes ertragen, einen blinden Zufall gibt es nicht. Und gibt es etwas wunderbareres als sich inmitten der grauenvollsten Schrecknisse in der Liebe Gottes geborgen zu wissen! Wenn wir uns zuversichtlich Seiner Führung anvertrauen, werden wir gerettet. Lieber Theo, Du weißt, dass unsere Herzen inbrünstig für dich beten. Gottes Gnade ist mit Dir, Seine Engel beschirmen dich. Sei dessen immer eingedenk!

Besondere Neuigkeiten weiß ich Dir weiter keine mehr zu berichten. Dass Aloys aus Büschdorf vor eineigen Monaten in Afrika in englische Gefangenschaft geraten ist, weißt Du sicher. Vor sechs Wochen erhielt seine Frau Nachricht von ihm aus Kanada. Herr Dr. Mollweide’s Bruder ist seit kurzem Oberarzt bei den Fliegern und lebt an der französischen Riviera ein feudales Leben, versorgt seine Mutter und Schwestern mit wunderbaren Kostümstoffen, hat seinem Bruder ein Paar handgearbeitete Schuhe geschickt, außerdem erlesene Bücher etc. Gerade einen Monat vor der englisch - amerikanischen Landung in Sizilien war er versetzt worden, nachdem er noch die fast totale Zerstörung des herrlichen Palermo miterlebt hatte.

Liebster Theo, Gott segne Dich und schirme Dich fürderhin. Ich umarme Dich herzinniglich und küsse Dich auch für Mutter, Oma und Vater
Deine Josefa

P.S.

Soeben höre ich, dass vier weitere Päckchen angekommen sind. Tausend Dank! Deine Uniform ist auch fertig. Schreibe doch bitte, ob Du irgendetwas benötigst. –

Entschuldige die Schrift! Nochmals 1000 Grüße
Deine Josefa