Theo Hoffmann an Freundin Rosalie Schüttler, 20. Oktober 1942

Rostow 20.X.42
F.N. 35671 (wie lange?)

Liebes Röschen,

Die Fahrt nach Rostow war eine unendliche Reise, obwohl es nur 270 km sind, dauerte sie zwei Tage. Ein Teil des Weges konnte ich dabei per Auto zurücklegen, dank des Entgegenkommens des Chefarztes, der mir seinen Wagen zur Verfügung stellte. Wenn ich mir so die zwei Monate in Russland überlege, so kann ich es gar nicht fassen: es war eine fruchtbare Zeit für mich und zumeist habe ich viel dazu gelernt. (Thoraxchirurgie und Extremitäten) Ich bin in den zwei Monaten gewachsen, ich habe so den Eindruck, es setzt sich allmählich, es beginnt der große Blick, Intuition, geistig- überlegend, auf Kenntnissen aufbauend denken und handeln. Ich habe [...] Menschen kennen gelernt, darunter sehr vernünftige, mit denen man ein offenes Wort wechseln konnte, ewig wertvolle Kameradschaften - eines Sauerbruch und Frey-Schule [?] – die schönste und gewinnbringendste Zeit droht mir für diesen Winter vorbei zu sein. Man hat mich zwar wieder hier in Rostow an ein Kriegslazarett als Chirurgen kommandiert – mutig, das in einem Palastbaueingerichtet werden soll und einzig in seiner Art werden soll, - doch bleibe ich sehr zurückhaltend hinsichtlich meiner Aussichten. Zu viele Truppenärzte sind gefallen und man hat bisher schon eine gute Anzahl von Kollegen von hier als Truppenärzte versetzt – man greift dabei auf die sogenannten Jüngeren und Unterärzte zurück. Ich kann nur abwarten.

Die Reise nach Rostow ging in strömendem Regen vor sich, die Wolken hingen tief herab, die meisten Pflanzen versanken im [...] Regen. Es ist der Herbst in all seiner Untröstlichkeit, alles, was man hier sieht, zeigt Spuren der Verwüstung, heimatlos sind die Menschen geworden, diese unendliche Melancholie schmerzt einen.

Aber nun Rostow, es ist früher sicher eine sehr schöne Stadt gewesen, organisch gewachsen, das schon zur Zarenzeit eine große Bedeutung hatte. (Kathedralen und Kirchen, ein modernes, großes Opernhaus). Große alte wie moderne Palastbauten, breite Strassen, viele Theater. Doch gut die Hälfte der Stadt ist zerstört und ausgebrannt. Doch kann man sich noch einigermaßen wohlfühlen. Ich habe wieder viele Noten und Bücher gekauft. Ich bin ganz begeistert, ich werde hier eine Bibliothek eröffnen können. Nur eines fehlt mir: das Geld, was sonst dem Landser in Russland nie fehlt. Ich war so froh über das Geld, das für Paris bestimmt war und mir für diese Käufe so gute Dienste getan hat. Es war alles gut hier angekommen. Recht herzlichen Dank ! Ich werde Dir bald alles zurück überweisen lassen,

wenn die Unterarzt-Beförderung klappt. Das dauert seine zeit. Noch eins: Ich schicke zwei Paketmarken (4 Mark) mit Ich mache von Deinem lieben Angebot Gebrauch, Das muss bis zum 30.November geschehen, für die großen Päckchen. Vom 10.-30. November sind außerdem die 100 Gramm Päckchen gesperrt. Also, wenn Du ein kleines Päckchen unterbringen kannst, schicke es schnellstens. Meine nun bescheidenen Wünsche:1 Stückchen Seife(vielleicht als 100 Gram Päckchen), Bindfaden, eine Taschenlampe mit Batterie, Reclam Ausgabe 1241-42 Marc Aurel: „Selbstbetrachtungen“. Könntest Du an ganz dicke Fausthandschuhe kommen, die man über die anderen Handschuhe zieht? Bisher haben wir nichts derartiges erhalten; auch fast keine Winterausrüstung; bin gespannt, was das geben wird. Auch wenn sie unförmig dick sind, so macht das nichts. Noch eines: meine schöne Armbanduhr ist kaputt, muss ich reparieren wie meine beiden alten Taschenuhren zu Hause. Hättest Du vielleicht irgendetwas zu Hause, eine alte wertlose Uhr, sie muss nur laufen. Ohne Zeitmesser ist man hier völlig verloren. Ich bitte Dich, die letzten beiden Wünsche mir nur zu zuschicken, wenn ihre Erfüllungsmöglichkeit nicht allzu fern liegt und im Bereich des Erreichbaren liegen. Ich bin unfair mit meinen Wünschen.

An Büchern interessiert mich noch: Tasso von Goethe, kleines Neues Testament in deutsch, [...], in französisch von Molière: les Precieuses ridicules, l’avare (Der Geizige) – welch fantastische Aufführungen habe ich in der Comédie Francaise gesehen, - die Texte habe ich in Paris liegen lassen – oder sonst eine Komödie von Molière. Shakespeare (Reclam), besser in deutsch, in französisch ist Sh. mir ein wenig schwer: „Hamlet“, „Was Ihr wollt“, “Der Widerspenstigen Zähmung“, „Viel Lärm um nichts“, eine kleine englischen und eine kleine russische Grammatik. Nebenbei macht mein Russisch gute Fortschritte. Die kleinen Texte könntest Du ja als 100 Gramm Päckchen schicken.

Liebes Röschen, Du siehst, ich habe unverschämt viele Wünsche. Sei mir bitte nicht böse, dass ich sie so frei äußere, wenn es nicht aus dem und dem Grunde gehen sollte, so ist es auch nicht tragisch.

Deinen Brief vom 4.10. habe ich nach meiner Ankunft in Rostow erhalten, desgleichen ein Päckchen mit herrlich wunderbaren Plätzchen.(Bisher ist die Verpflegung hier nicht großartig) Ich bin Dir dankbar für diesen Brief! Er enthält viel Tröstliches – und Du zeigst Dich in ihm als überaus geschickter avocat à la cour des sentiments und als überzeugender Dialektiker zarter Lebensweisheit. Du hättest mich demnach vollends überführen können....

Ich habe hier Partituren von Konzerten von Rachmaninow erwerben können. Partituren von Quartetten. Rimskij-Korssakow, Tschaikowski, und eine ganze Masse anderer unbekannter russischer Komponisten, die großartig sind.

Ja, ja das erste Gürzenich Konzert: dieser Verdi ist mir dem Titel noch bekannt, soweit ich weiß ein Spätwerk und seine Spätwerke sind alle überragend, umfassen. (Denke an „Otellos Tod“) Die 7. Bruckner Sinfonie E-dur kenne ich in und auswendig. Aber eigenartig, sie animiert mich nicht, sie ermüdet mich à la longue. Er bringt zuletzt zwar eine Unmasse Themen, (Walhall-Themen, Waldszenen - man hört den Kuckuck rufen - und sehr melodiös) die er aneinander reiht, ohne sie recht durchzuführen, sie anzusteigern. Es sind Riesenschlangen – das soll kein Urteil sein. Selbst das Adagio Cis-moll „Auf den Tod Richard Wagners“ hat mich nicht angesprochen, zuerst die Tuben alle, dann die Geigen allein, so wundervoll schmerzvoll beginnend, aberplötzlich hört es auf, wieder ein neues Thema, dann das strahlende Bläser e-dur. Die Instrumentation umfasst alle Raffinesse eines Riesenorchesters. Herrlich und wundervoll ist der dritte Satz des Scherzo , malgré tout, - Bruckner bleibt mir ein Problem. Außer dem jungen Bruckner, der gefällt mir, viele seiner Anhänger in Paris traten nicht als große Kenner auf, auch eigenartig, viele Illusionisten sind darunter, die aber ein Urteil über Bruckner in keiner Weise beeinflussen sollten.

Lebe recht herzlich wohl, liebes Röschen
Und auf ein baldiges
Dein Theo