Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 26. April 1943

Ostermontag, 26.4.

Lieber Theo!

Das Osterfest geht langsam zu Ende, im Hause mit feiertäglicher Besinnlichkeit, im Radio mit schöner Musik, und draußen, nach einem wilden Regen, der alle Düfte der Erde hervorlockt, mit den letzten Sonnenstrahlen. Ich habe den eilig, nach Osten ziehenden Wolken und der untergehenden Sonne meine Grüße für Dich aufgetragen - . Wie magst Du die Ostertage im fremden Land verbracht haben? Ich denke die ganze Zeit daran, wie Dir wohl zumute sein mag, ob Du arbeiten musstest, oder ob Du einen freien schönen Festtag ganz nach Deinem Sinn verleben konntest. Hoffentlich ist mein Brief und dadurch auch mein Paketchen rechtzeitig in Deine Hände gekommen, damit es zu Deinem Ostertisch ein wenig beitragen konnte. Wie gern hätte ich ihn Dir festlich decken mögen mit duftendem Flieder oder feierliche Tulpen und mit kleine fröhlichen Überraschungen. Ich habe etwas Hübsches für Dich kaufen können, doch Du kannst es nur hier gebrauchen, und ich hebe es Dir deshalb auf bis Du kommst. Inzwischen kannst Du ein wenig raten, was es sein mag - einmal hast Du Dir etwas Derartiges gewünscht. Für mich sind die Ostertage von eigentümlicher Stimmung. Ich bin sehr unglücklich durch Dein Stillschweigen - aber sollte ich nicht dennoch ein wenig Hoffnung haben? Ostern ist solch ein glückliches Fest mit seinem Auferstehungsgedanken und seligen Verheißungen. In diesen Tagen muss ja ein Brief von Dir kommen, zu Ostern wirst Du mir doch einen Gruß geschickt haben? Ich habe ein kleine Reise gemacht. Gestern in noch dunkler Frühe, als ich aufwachte und voller Angst war vor dem Warten auf die Post, habe ich mich plötzlich entschlossen nach Gelsenkirchen zu fahren und meiner Schwägerin den längst versprochenen Besuch zu machen. Um sieben Uhr saß ich schon im Zug, und es war eine schöne Fahrt so durch die erste Sonntagsfrühe,

vorüber an Waldstreifen von zärtlichen Birken, blühenden Obstgärten und den gelbbrennenden Rapsfeldern. Doch dann sah ich Essen, wo bei einem kürzlichen Luftangriff etwa 3000 Menschen umgekommen sind. Diese Stadt bietet einen fürchterlichen Anblick, wüster noch als Köln und Düsseldorf, das Auge sucht sehnsüchtig und fast vergeblich nach unversehrten Häusern - es ist grauenhaft. Gelsenkirchen dagegen, obgleich nur wenig entfernt, ist noch ganz gut intakt, aber es ist eine grauschwarze Kohlen- und Arbeitsstadt, in der ich noch nichts Schönes gefunden habe - bis auf die gestrige Ostermesse. Davon muß ich Dir erzählen lieber Theo, Du wirst mit mir begeistert sein.

Auf dem Wege vom Bahnhof hörte ich im Vorbeigehen aus einer Kirche wunderschönes Geigenspiel, und das lockte mich natürlich hinein. Ich geriet in tausendfältigen Kerzenschimmer, eine Missa Solemnis in höchster Prachtentfaltung - und ich war überrascht und ganz gefangen von der frohen Stimmung.

Man hatte ein richtiges kleines Orchester mit Geigen, Trompeten, Cello und Pauke, wundervoll, ich habe das in dieser Zeit in Köln noch nicht erlebt. Gern hätte ich gewußt, von wem die Musik war, das Kyrie so sanft, aber wahrhaft flehend und eindringlich nur zu den Geigenstimmen gesungen, dann machtvoll und rauschend mit allen Instrumenten das Credo, und ebenso glanzvoll und jubelnd erklangen alle Stimmen zum Sanctus. Leise war wieder das Agnus Dei, zart, demütig und doch feierlich nur mit den Geigen, die überhaupt immer wieder während der ganzen Messe ihre Soli spielten. Es war ein wunderschönes Erlebnis, ich habe Dich sehr herbeigewünscht. Vielleicht hättest Du auch die Musik erkannt. Unverständlich war mir nur, dass die

Kirche so gering besucht war. Das ist etwas, was ich ebenfalls in Köln noch nicht erlebt habe. Zu dieser herrlichen Feier wäre hier jede Kirche zu klein gewesen. Ich dachte einmal daran, ob Du in diesen Tagen wohl Gelegenheit hattest, eine der berühmten russischen Osterfeiern zu erleben und denke an den Karillon der Glocken, worüber Korssakoff in seinem Buch so nett geschrieben hat. Erinnerst Du Dich an die hübsche Anmerkung, wie ein russischer Bauer beim Klang dieses Osterkarillons sich erst andächtig bekreuzigt und dann nach seinem Rhythmus einen wilden Tanz aufgeführt haben soll? - Aus dem Buch hätte ich Dich gern manches gefragt, aber im Brief hat es wohl kaum Zweck, denn das meiste könntest Du mir doch nur an der Musik selbst erklären. Es hat mir auch immer leid getan, wenn ich bei den Beschreibungen der Stücke den Inhalt der zugrunde liegenden Erzählungen nicht kannte. Ich erinnere mich nicht, einmal etwas von Gogol oder Puschkin gelesen zu haben, und es ist so bedauerlich, dass man jetzt nichts bekommen kann, ich hätte mir manches anschaffen mögen. - -

Bei meiner Schwägerin war es sehr nett. Es ist schon wohltuend, wenn jemand sich so sehr freut, dass man kommt. Zuerst haben wir uns einen köstlichen Osterschmaus bereitet, der dank eines Bauernpaketes garnicht kriegsmäßig ausfiel. Mit einer Tasse Bohnenkaffe erzielten wir dann volle Behaglichkeit, und wir haben bis in die Nach hinein sehr nette Gespräche geführt. Es ist interessant zu entdecken, das ein anderer Mensch von sich aus in vielen Dingen zu den gleichen Ansichten und Folgerungen kommt wie man selbst. Meine Schwägerin war drei Jahre als Kindergärtnerin in London und erzählt begeistert von der Geselligkeit, von großen Konzerten in der Albert-Hall und der Art zu leben überhaupt. Wir haben verabredet,

nach dem Krieg dort Besuch zu machen, zumal eine meiner Freundinnen in London gut verheiratet ist und mich oft schon eingeladen hat. - Nun muß ich Dir noch meine kleine Nichte vorstellen, ein süßes Persönchen, das eben laufen kann. Sie hat mich natürlich bald für wilde Spiele engagiert - was für eine Ausdauer Kinder doch haben im Herumtollen, und wie sie zärtlich sein können. - Wenn ich zuweilen daran denke, dass ich einmal ein Kind haben würde, dann ist es immer Dein Ebenbild.

Gibt es wohl etwas Schwereres als eine solche Sehnsucht, die sich nicht erfüllen soll? Doch ich will Dir nicht mit diesen Gedanken kommen, sei mir bitte nicht böse. -

Seit heute mittag bin ich schon wieder zu Hause, ich hatte Sehnsucht danach, Dir zu schreiben.

Leb wohl lieber Theo, ich grüße Dich herzlich -
Deine Röschen