Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 19. Oktober 1943

19.10.43

Lieber Theo!

Viel zu lange bin ich schon ohne einen Gruß von Dir, in dieser für Dich so gefahrvollen Zeit. Nach kurzen Beruhigungen melden die Berichte jetzt wieder schwere Angriffe und erbitterte Kämpfe, und dies in einer solchen Ausdehnung der Front, dass es nur ein glückliches Wunder wäre, wenn Du nicht mitbetroffen sein würdest - ach, wenn ich doch nur ein kleines Zeichen hätte, dass Du lebst und gesund bist und weiter alles ungebeugt erträgst.

Tag um Tag geht so vorüber in Hoffen und Warten und angstvollen Gedanken, bis immer mehr die Letzteren an Macht gewinnen, sodass ich oft meine, das Warten nicht länger ertragen zu können. Es treibt mich sehr, bei Dir zu Hause anzurufen, aber noch verschiebe ich es von einem Tag zum anderen. Vielleicht kann ich mir durch so opfervolle Geduld eine gute Nachricht von Dir verdienen. Nun lachst du gewiß, aber in so tiefem Bangen hat man leicht das dunkle Gefühl, mit irgend etwas das Schicksal gnädig stimmen zu müssen.

   In dieser Woche hatten wir im Geschäft Frontbesuch, von einem Kollegen, der 22 Tage Urlaub hat (das vermerke ich in Gedanken an Dich voller Neid). Er führt als Oberleutnant einen Bautrupp, Eisenbahn-Oberbau, und hat zuletzt immer Nachhuten gebildet und hinter den zurückgezogenen Truppen die Gleisanlagen und Bahnhöfe abgebaut - oder gesprengt. Außerdem hat er zwei Panzer auf dem Ärmel, und so waren alle recht neugierig auf seinen Bericht (ich natürlich, um Deinetwillen, im besonderen), so dass unser Chef uns schließlich zu sich nach Hause eingeladen hat, damit wir behaglich uns unterhalten konnten. Das war

offensichtlich eine Verbeugung vor dem ‘Oberleutnant’ und dem EK I. Dieser Kollege ist ein guter Soldat (des Führers, heißt das) , aber seine Schilderungen und Auffassungen sind sachlich und interessant, ich musste oft an Deine Briefe denken. Er gehört auch zu dem südlichen Frontabschnitt und er erzählte auch von den russischen ‘Mähmaschinen’, und auf welch furchtbare Weise die Russen ihre Einbrüche erkämpfen. Du kannst Dir denken, wie ich ihn durch Fragen und Bemerkungen immer weiter anregte, und wie begierig ich zuhörte - obgleich mein Herz dabei weh tat, weil Du dem allem so unweigerlich ausgesetzt bist. –

Er sprach dann auch über die ‘neue Waffe’, die eine Kombination von ferngesteuertem Flugzeug und Bombe sein soll, womit ohne Einsatz von Menschen ganz England völlig zerstört werden könnte - dass aber durch den kürzlichen Luftangriff auf die Ostseeküste der Aufbau dieser Waffe empfindlich zurückgeschlagen wäre.

Hm, hm, kann man zu all dem wohl erst sagen. Aus der ganzen Unterhaltung ergab sich aber überhaupt, welche weiteste Folgen die Fliegerangriffe nach sich ziehen, mehr noch, als wir damals bedachten, und ich habe es wieder bewundert, wie klar Du das gleich gesehen hattest. Schließlich haben wir uns getrennt mit dem Gefühl, wie schlecht es für unsere Soldaten wäre, wenn die Russen den Winter über so weitermachen könnten. Ja, nicht umsonst ist jetzt wieder ein neues Schlagwort gestartet: “Wir glauben an den Sieg“, das einen von zahllosen Plakaten zwischen den Trümmern in die Augen springt. Es war jetzt der Nachruf der Stadt Köln für die durch die Angriffe Gefallenen in der Zeitung . Der WB brachte an zwei Tagen

je zwei Seiten, eng ausgefüllt, das waren ungefähr 5000 Namen! In dem zerstörten Köln wird nach Kräften gearbeitet. Über die Schildergasse und Hohestraße ist bis zur Stadt hinaus eine Feldbahn gelegt, die fortlaufend Schutt abfährt, um die Strassen , die ja zu Teil nur noch schmale Fußwege hatten, wieder frei zu machen. Die obere Hohestraße ist überhaupt noch völlig von Schutt und ‘Einsturzgefahr’ versperrt. -

Demnächst soll auch unser Büro wieder zum Habsburgerring verlegt werden, in den Anbau, der einigermaßen erhalten geblieben ist und zur Zeit ein wenig hergerichtet wird. Nun, ich lasse mich überraschen. Ich schicke Dir dazu einen Zeitungsausschnitt, der recht bezeichnend ist.

Aber ich will dankbar sein, wenn ich noch mein Heim behalte, in dem ich mich wohlfühlen und mir selbst leben kann. Hier kann ich auch die ganze Welt mir heimholen. Ich habe wieder ein Buch, das mich augenblicklich ganz erfüllt, das Wiesenbuch von Waggerl, wunderschön geschrieben und mit einer großen Anzahl entzückender Schattenzeichnungen von Gräsern und Wiesenblumen, so schön und echt, dass man sie freudig wiedererkennt und gleich eine ganze Wiese deutlich vor sich sieht. Ich habe so viel übrig für das Leben und Weben auf Wiesen. Mein Bruder hat in seinem letzten Ski-Urlaub den Waggerl persönlich kennen gelernt, der in einem der Tiroler Wintersportplätze Bürgermeister ist.

Er soll dort ein so wüstes Leben führen und meist betrunken sein, dass ihm solch zarte Empfindungen und Beobachtungen kaum zuzutrauen wären. Ich könnte es mir dennoch zusammenreimen - und darf man denn solche Menschen nach gewöhnlichem Maß messen? Höre nur

wie hübsch er sagt: „Auf meiner Wiese ist der Wind immer unterwegs, immer vergnügt und voller Einfälle. Ich habe ihn oft in den Bäumen wie Wasser gurgeln gehört, und ein anderes Mal stand ich lange im Kornfeld, da trieb er sich herum und pfiff auf einem gebrochenen Halm“.

Oder nach der herrlichen Beschreibung eines Gewitters: „ Immer heller wird das Land, reiner und höher der blasse Himmel, und dann fällt dem dunklen Osten eine Fahne aus der Wolke, festlich und breit in den sieben Farben des Herrn. Sie rollt bis zur Erde herab - Gräser und Bäume sind über und über mit farbigem Licht bespritzt, an den Ästen hängen dicke Wasserperlen aufgereiht, sie rollen herab und zerstäuben auf dem Boden mit einem klingenden Laut“.

Und noch eins: „Jetzt müsste ich etwas Großes anfangen, ein schwieriges Werk, das meinen Tod überdauert. Aber was ist nun eigentlich wichtig in der Welt? Was könnte man tun, um einen Platz unter den Gestirnen zu erobern? Ein Mensch baut die Pyramiden, ein anderer Mensch sitzt sein Leben lang in der Einöde für das Heil seiner Seele, und der Himmel lächelt über beiden. Ja, der Himmel kann lächeln, er trägt das Geheimnis in seinem Schoß“.

Ist das nicht schön zu lesen an besinnlichen Herbsttagen? Selbst wenn - oder gerade weil das Gemüt von Sorge umdüstert ist. - In diesen Tagen fand ich eine kleine bemerkenswerte Notiz in der Zeitung, ich klebe sie Dir auf, denn sie wird Dich gewiß interessieren. Hättest Du da nicht auch mit dabei sein mögen? Denke Dir dieses Fest des Geistes! Der Gedanke daran ist schon berauschend. Du siehst auch, dass ich Recht hatte

mit meinem Urteil über Dresden, eine solche Aufführung gibt es in Köln nicht. Inzwischen habe ich aber das erste Beethoven-Konzert gehört, die 1. Und 2. Sinfonie - ich brauche Dir wohl nicht zu sagen, dass es wunderbar schön gewesen ist. Wie beglückend ist diese Musik, ich war voll tiefer Freude - und wie freue ich mich auf die weiteren Sinfonien!

Ich gäbe nur Gott weiß was darum, wenn auch Du sie hören könntest, weil ich doch weiß, wie sehr Du sie brauchst. Die Aufführungen sind in der Aula der Universität, ein schöner Raum mit seiner hellen Holzauskleidung, den tiefroten, reichen Vorhängen und all den geschmackvollen Lampen, eine passende Umgebung für diese Konzerte. Erzähle mir einmal, welche der ‘Neun’ die schönste - oder Dir am liebsten ist. Ich kenne bisher erst sechs. –

Hoffentlich muss ich nicht mehr so lange warten auf ein Lebenszeichen von Dir, Du hast inzwischen doch gewiß geschrieben? Vielleicht ist der Weg durch die Zensur so zeitraubend, sie scheint verstärkt zu sein, meiner Hausgenossin ist ein Posten bei dieser Stelle angetragen worden. Brauchen meine Briefe an Dich auch so lange Zeit? –

Inzwischen habe ich das Paketchen, von dem ich zuletzt schrieb, an Dich abgeschickt, und ich mache schon wieder Pläne für ein Neues. Hast Du genügend warmes Zeug zum Anziehen, oder kann ich Dir etwas besorgen oder herrichten? Ich habe ja noch die Wolle, die ich in Rysum kaufte, um mir ein Jäckchen zu stricken, aber viel wichtiger ist, dass es Dir an nichts fehlt.

Bitte schreibe doch darüber, lieber Theo; ich mache mir jetzt auch diese

Sorge, denn es ist schon recht kalt, solange die Sonne nicht da ist, und schon mehrmals sah ich morgens in weißbereiftes Land. Ich habe die letzten Blumen aus dem Garten hereingeholt und noch einmal verschwenderisch alle Zimmer geschmückt in gelb und rot. Die kleinen Buschröschen haben so hübsche herzförmige Blättchen, dass ich Dir davon einige mitschicken muß - und des Duftes wegen die großen Rosenblätter. Vielleicht behalten sie einen Hauch ihres herbsüßen Duftes und bringen Dir damit eine Spur von Erde und Sonne der Heimat mit.-

Schreibe nur bald, bald, lieber Theo, wie es Dir geht. Ich denke immer an Dich. Einmal bin ich im Morgengrauen aufgewacht, weil ich deutlich Dich sprechen hörte, sodass ich selbst im Wachen noch den Nachhall Deiner Stimme fühlte - ich war ganz verwirrt--

Gott behüte Dich lieber Theo, und alle Engel seien mit Dir in schweren Stunden!

Ich grüße Dich herzlich
Deine Röschen.

Nicht beigefügt. Inhalt: Arbeitsstätte im Keller – Eine Kölner Firma hatte ihre Arbeitsräume aus Luftschutzgründen in das Kellergeschoss verlegt. Einer der Arbeiter erkrankte eines Tages und klagte daraufhin beim Kölner Arbeitsgericht gegen den Firmeninhaber auf Zahlung von wöchentlich 30 Mark Schadenersatz mit der Begründung, er führe seine Beschwerden darauf zurück, dass die unterirdischen Arbeitsräume feucht seien und darin Durchzug herrsche. – Die Klage wurde abgewiesen mit der Begründung „ aus Gründen der Landesverteidigung wurden die Räume verlegt, wo sie naturgemäß nicht so einwandfrei hergerichtet werden konnten, wie es über der Erde möglich gewesen wäre“.