Theo Hoffmann an Freundin Rosalie Schüttler, 31. Oktober 1943

31.10.43 [Poststempel]
Liebes Röschen,

habe Deinen lieben langen Brief wie auch die zwei Päckchen erhalten. Habe recht herzlichen Dank ! Leider waren die Birnen weitgehend durch die lange Reise zerstört, das wundervolle Aroma schmeckt aber noch durch. Ein Großteil der Päckchen wie auch Deine schönen Briefe sind in Feindeshand gefallen, infolgedessen kann ich sie nicht im einzelnen beantworten, Fragestellungen konkretisieren. Doch dazu später.

Noch eins zuerst: ich werde rebellisch, wenn ich dieses leere Gerede da lesen muss. Liebes Röschen, verschone mich mit diesen Artikeln. Es lohnt sich auch nicht eine Sekunde der Beschäftigung damit. Sie erscheinen sehr klug geschrieben, dazu angetan, die Halbgebildeten zu bestechen und sie zu verwirren. Aber sei dessen sicher, es ist leeres Geschwätz. Darüber sind wir doch hoch hinaus.

In dem Gebiet Charkow bin ich natürlich lange nicht mehr. Der Rückzug ging über Poltawa, Tscherkassy, dauernd bedrängt durch die nachdrückenden Russen, diese uns einmal überholend und umfassend, dann wieder mit Sturm aus der Umfassung heraus, Dnjepr-Übergang auf einer Pionier-Brücke und Sturmbooten unter dem Hagel russischer Schlachtflieger. Er bescherte uns immer wieder und wieder Verluste, bien compris (---) par la retraite en vitesse ...

An einzelnen Stellen waren die Russen natürlich vor uns am Dnjepr und machten Brückenköpfe, von denen sie aus Restrussland zurück erobern wollen. Wir befinden uns auch an einem Dnjepr-Brückenkopf, den wir eindrücken sollen. Wir sind gar nicht recht dazu gekommen, im Gegenteil, nachdem die Russen bald täglich wütende Angriffe gemacht hatten, die uns bei den dünn besetzten Stellungen - das ist nun die Tragödie - Tag und Nacht die Ruhe rauben und weiter dezimieren, kam es vorgestern zur Katastrophe – nebenbei gab man mir en passant das E.K. II, welches ganz hübsch am schwarz-weiß-roten Bande baumelte. Morgens um 5 Uhr ging plötzlich ein unvorstellbares Trommelfeuer los – wir bekommen das in dieser Weise und Dauer gar nicht mehr zustande. Das Dorf stand in wenigen Minuten

in Rauch und Flammen. Unser Haus bekam einen Treffer, wir gingen (meine Sanitäts-Staffel und noch 6 Mann) in Erdlöcher an der Seite, die ich vorsorglich hatte buddeln lassen. Die HKL befand sich vor dem Dorf, mir hatte immer nichts Gutes geschwant, skeptisch wie man ist. In diesem Trommelfeuer - man stelle sich so etwas vor -gingen die Russen in Stärke von circa 3000 Mann mit Panzern vor, auf unserer Seite 300 Mann, die in eilendster Flucht frontwärts am Dorf entlang zu entkommen suchten, was von mir zunächst gar nicht bemerkt wurde.

Wohl knallten I.-G. und M.G. - Geschosse verdächtig nahe über unsere Köpfe, aber sehen konnte ich keine Russen und hinein gehen kann man so ohne weiteres nicht, wenn man nicht weiß wohin – bis plötzlich auch auf der entgegengesetzten Seite der Front in circa 150 m Entfernung die Russen heranstürmen von den Abhängen hinunter - das Dorf lag in einem Talkessel – also eingeschlossen. Gott sei Dank zielten die Russen äußerst schlecht, obwohl sie sich mit ihrem „Hurräh“ wie wild gebärdeten. Es blieb nur ein Ausweg zwischen den Häusern und Gärten durch die Russen hindurch in eine Schlucht. Wir mussten natürlich auch mit der Pistole knallen, damit sie nicht allzu flott auf uns zustürmten. Mein Wagen, das gesamte Sanitätsmaterial, wie auch das Privateigentum fiel natürlich in die Hände der Russen. Gott sei Dank hatte ich die Hauptsachen meines Eigentums beim Tross, der 20 km zurück liegt. Das Trommelfeuer dünkte den Trossleuten selbst in dieser Entfernung so verheerend, dass sie gleich die Koffer packten. Es gelang mir aus der Schlucht hinaus zu kommen, weil ich mich zunächst in einem Sumpf unter dichtem Gebüsch verbarg. Scheinbar lag den Russen nicht viel daran, überall herum zu suchen und herum zu stochern, an der Beute, die sie da fanden, hatten sie genug. Alle Kraftwagen der Batterie, wie herangekommene Verpflegung

und Marketenderware – darunter viel Alkohol - Funkwagen, Fernspähgeräte, alles, alles ging verloren. Es gab natürlich viele Vermisste, bisher allein 100 Mann. Der Kommandeur war schon vorher geflohen, wurde vermisst, kam aber vor mir aus dem Dorf. Ich werde wohl der Letzte gewesen sein, der heil aus dem Dorf heraus kam, robbend und kriechend entwich ich in der Dunkelheit aus der Schlucht, von den Russen unbemerkt, durch die Linien. Das einzige, was ich außer der Pistole mitführte, war ein Flasche Hennessy. Es muss recht kurios ausgesehen haben, als damit beim Regiment erschien, denn man hatte mich schon aufgegeben und wollte schon bei der Division Ersatz fordern. Amüsant so etwas zu hören! Man wird allmählich ganz gleichgültig gegen all das Elend. Man fragt sich, wirst Du schwer verwundet oder fällst Du, hast du Pech gehabt. Kommst Du gut durch, kannst Du Gott noch einmal danken. Es ist eine zermahlende Mühle, in der einer nach dem andern schnell und sicher zugrunde geht. Wer verwundet in die Hände der Russen fällt, wird erschlagen. Bei uns ist es ja das Gleiche. Wenn ich etwas derartiges verhindern kann, tue ich es mit allem Nachdruck. Man sieht so viele neue Gesichter, Mannschaften wie Offiziere – größtenteils unbrauchbar, unlustig, aber es wird trotz des dauernden Ersatznachschubs immer weniger, manche sind 1-2 Tage hier, dann schon gefallen oder vermisst. Die Demoralisation greift auch schon auf Offiziere über -es ist nicht die Regel - aber man sieht da recht traurige Bilder. Ich werde hier mehr und mehr Instanz richterlichen Urteilens und Entscheidens. Keine dankbare und mir unangenehme Aufgabe, aber ich löse sie aus ärztlichem Gewissen und nach Maßgabe des Menschen und seiner Grundeinstellung - seiner Haltung und Geistesverfassung seit Jahren! ---und dann unnachgiebig und hart. Letztes ist schnell geklärt durch ein kurzes Frage- und Antwortspiel. Aber glaube mir, es gibt auch ganz wundervolle Menschen hier, gerade

unter den einfachen, Simplen: wortlose Tapferkeit, Todesmut, Ergebung in das Schicksal. Einer meiner besten Sanitätsdienstgrade ist vor zwei Wochen gefallen. Er war ein solcher Mensch. Ich hätte weinen können, mir blieb nur der schwere Brief an seine Frau.

Wie es vor dem Dnjepr zuging so geht es hinter dem Dnjepr zu . Wie lange noch. Schon morgen oder übermorgen erwarte ich einen gleichen Angriff auf unsere jetzige Stellung - wir haben diesem (---) nicht allzu viel entgegen zu setzen. Dazu Regen über Regen, Straßen und Wege sind in Morast und Schlamm verwandelt, man kann gleich seine Stiefel darin lassen. Angreifen tut der Russe Tag und Nacht, in Zug- bis Kompanie-Stärke als „bewaffnete Aufklärung“ ernsthaft und durchaus allzu schnell. Fallschirm-Truppen sind hinter den Linien gelandet und machen das Gelände unsicher. Gestern erwischten wir einen im Dorf nicht weit von unserem Haus, der einen Fahrer erschoss und dessen Fahrzeug dann prompt in den Graben fuhr und unbrauchbar wurde. Tag und Nacht streut der Russe mit seiner Artillerie und Granatwerfern das Gelände ab, zuweilen trifft er etwas. Gestern gab es einen Volltreffer in ein Haus, 30 Meter neben mir – aufeinen Schlag 6Tote und 3 Verletzte.

Au revoir, schreibe mir recht viel und bald von Deinen Erlebnissen und Eindrücken.

Apropos Fotos, sie waren sehr schlecht und im übrigen amüsieren sich wohl die Russen damit. Neuauflage lohnt nicht. Die 4.Sinfonie in d-moll in einem Satz von Schumann ist mir wohl bekannt, es bedarfabereiner hinreißenden Interpretation, um sie innerhalb der großen sinfonischen Werke der Weltliteratur zu Geltung zu bringen. Furtwängler gab sie einzigartig –

Dann: der allgemeine Hass ist die (---) für unsere Schuld als Störenfriede, sicherlich und allzu, allzu verständlich. Wir sprachen einmal über die Herrschaft des Geistes. Geist muss sich irgendwie ausdrücken.

Anbei Illustrierte.

Ich grüß Dich recht herzlich, liebes Röschen
Dein Theo

wohl verstanden (...) durch den hastigen Rückzug
Vgl. deren Antwort vom 12.12.1943