Theo Hoffmann an Freundin Rosalie Schüttler, 16. September 1942
Stalino 16.9.42
Liebes Röschen,
recht herzlichen Dank für alle Deine Briefe, die heute zusammen mit der anderen Post, (die dieser Post überhängt) en masse angekommen sind. 3 Briefe aus Rysum,, 3 aus Köln, ich zähle für mich der Vollständigkeit halber mit, insgesamt 39 Mark. Wie schade, dass sie mich nicht mehr in Paris erreicht haben. Welch gute Dienste hätten sie da leisten können, hier in Russland ist nicht viel zu haben, nicht für Geld und gute Worte.
Ich will ganz von vorn anfangen. Also nach Heydebruk [?], wo wir etwas hängen blieben, ging es weiter über Kattowitz, [...], Radom, [...], Lublin, [...], Dnjepropetrowsk, Stalino, Makijivka unserem vorläufigen Endpunkt. Unsere Abteilung sollte ursprünglich in den Kaukasus, doch daraus scheint vorläufig nichts zuwerden, vielmehr droht uns, wenigstens dem größeren Teil, die Auflösung, das für uns jüngere die Commandierung zum Truppenarzt bedeutet, hier in Russland ein halbes Todeskommando. (Hier im Lazarett Stalino liegen allein für den Augenblick 10 zum Teil elend zugerichtet.) Also die Reise war etwas anstrengend in der großen Hitze, verlief ohne größere Unglücke. Verpflegung war gut, doch sehr einseitig. Es gab eine Unzahl Fliegen besonders auf den Abstellbahnhöfen. Eine Anzahl wurde krank und wurde in Makijivka ins Lazarett geliefert. Ich selbst habe zweimal Attaquen von Seiten des Magen-Darmkanals gehabt, aber gut überstanden. Von Makijivka wurde auch gleich eine Chirurgenstaffel nach Stalino in ein Kriegslazarett beordert. Dieses Lazarett fängt die Verwundeten von Stalingrad auf, trostlos, was man da zu sehen bekommt, der Anfall von Verletzten ist erschreckend groß, infolgedessen geht die Arbeit Tag und Nacht durch, ohne Unterlass. Untergebracht ist dieses Lazarett in einer modernen chirurgischen Universitätsklinik, „Woroschilow Institut“(?), einem Lieblingskind Stalins, großartige [...]baulichkeiten, die allerdings durch den Krieg schwer mitgenommen sind. Es sind augenblicklich 1000 Verwundete hier, täglicher Ab- und Zugang von 400.Es gibt gute Verpflegung, derart gut, dass man so etwas augenblicklich in Russland nicht für möglich hält. Oft sind hier Sauerbruch, Böhler [Schreibweise?], der berühmte Wiener Chirurg, der Heeressanitäts-Inspekteur. Der höchste Mann, ein Generaloberfeldarzt sowieso und rasten mit uns im Kasino. Sie kommen vor allem wegen des guten Essens, sicherlich. Und dadurch, dass sie einmal hier und einmal dort dazwischen funkten, vereinfachen sie die Arbeit nicht, im Gegenteil, sie vergrößern sie noch. Unaufhörlich strömt es von Stalingrad aus zu. Die Russen leisten einen organisierten Widerstand, der alles bisher Dargebotene zu übersteigen scheint. Man gibt sich hier der Hoffnung hin, dass es der letzte derartige Widerstand der Russen sei und überhaupt noch sein kann, diese Schwachköpfe. Die Russen sind weitaus überlegen in Panzern und Flugzeugen. Die Truppen sind glänzend ausgebildet und ausgerüstet, von einem Mut ohne gleichen. Dieses Stalingrad scheint uns ein neues Verdun zu sein; selbst wenn es fällt, ist es nicht das Letzte. Und unsere Truppen haben nicht mehr den Schneid und den Elan wie 39, 40 und auch noch 41. Sie sind willig, diszipliniert , aber der so unbedingte Glaube [...] hat doch einen Knacks bekommen. Wo soll das noch
hinführen? Was ich bisher in Russland zu sehen bekam, ist unsagbar traurig. Die Städte alle verwüstet, Trümmerhaufen; auf dem flachen Lande ist der Krieg spurlos weitergegangen. Alle besseren Leute sind mit der Regierung ins freie, unbesetzte Gebiet gegangen. Es gibt nichts zu kaufen, wenn, dann unerträglich teuer: 1 Apfel 0,50 M , 2 Eier 1,50 M. Es ist schwer, durch den Schleier der Trümmer hindurch, sich ein Vorkriegsbild zu machen. Trotz allem kann man sehen, dass Bedeutendes in Russland geleistet worden ist. Von dem Arbeiter wurde viel verdient, die Preise waren auch nicht unverschämt hoch, denn es gab keinen freien Handel, es wurde zugeteilt (Bezugsschein), was darüber hinaus, war teuer, sehr teuer, [...]. Man ließ den Leuten viel Freiheit. Die Partei arbeitete sehr geschickt im Hintergrund, z.B. von den 120 Ärzten hier in dieser Klinik vor dem Kriege war kein einziger in der Partei. Man nahm das alles nicht so wichtig. Um die Leute ans Arbeiten zu bringen, war das System gar nicht einmal so schlecht, scheint mir. Die Kommunisten waren gar nicht so stur und hartnäckig. Man ließ die alten Leute in die Kirche gehen. Die Jugend ging sowieso nicht, man hatte sie gründlich aufgeklärt, diese hatten nur Gelächter für solches Theater.
„Wie sich die Bilder gleichen“ und dabei findet man noch mehr Sympathische im Vergleich zu uns – man muss nur mit dem Auge des Lebens sehen und keine weltanschaulichen Maßstäbe anlegen. Man fasst sich an den Kopf, der zwischen wie solchen Mühlen hergehalten werden muss. Bei Stalino steht das Ki[...]-Eisenwerk, 60 000 Arbeiter, eine riesige, moderne Anlage. Solche Werke gibt es hier eine ganze Menge, nicht minder große. Dazu riesige, moderne Fabrikarbeiter-Siedlungen mit drei oder mehr Etagen mit 2-3 Zimmern, natürlich alles zertrümmert oder ausgebrannt. Drunten hat man die kleinen Panje – Hütten stehen lassen mit ihren kleinen Gärten [...]. Die Städte sind riesig aus dem Boden gestampft, Hochhäuserwachsen aus den Wiesen heraus. Stalino hat 600 000, Makijivka hat 400 000 Einwohner, keine Verkehrsmittel, völlig unbrauchbar gemacht, ebenso wie die Fabrikanlagen, die werden vorerst nicht mehr in Gang gesetzt werden können. Wasser, Gas, Elektrizität, Strassen, Nahrung alles unbrauchbar. Nur einige große Gebäude sind mit allem versehen, wie unser Lazarett. Doch weiter, nachdem wir gut 3 Wochen hier gearbeitet, geht es wieder nach Makijivka zurück.
Ich habe mir zu guter letzt noch das Pappataci-Fieber geholt, eine Art leichte Hirnhautentzündung mit Angina und ekelhaften Kopfschmerzen. Die Kollegen sind schon weg, ich fahre ihnen nächste Tagen nach, die Chirurgenstaffel wird aufgelöst werden und dann wird sich wohl endgültig entscheiden, wo ich hingeworfen werde. Ich rechne mit dem Schlimmsten; wer so viel Glück hatte wie ich, wird sicher zu guter letzt dafür bestraft werden und alles ist zunichte gemacht. Ich bin weit entfernt, leider weit entfernt von jenem: „Sie säen nicht, sie ernten nicht, suchet zuerst das Reich Gottes, so wird Euch das alles darin gegeben werden.“ Es ist damit wohl mehr gemeint als „innere Zufriedenheit“, das soll vielleicht der Ausblick (?) und subjektive Gewinn des Lebens sein, es meint damit vielmehr teilhaben an dem Reich Gottes, das ist ein fest umschriebenes etwas. Ich beginne allmählich zu ahnen, was damit gemeint ist, aber ich kann es Dir nicht erklären.
Jedenfalls liegt etwas ungeheuer Tröstliches in den Verheißungen Christi. Schau doch einmal zu, ob Du Dir das Buch von Romano Guardini „Welt und Person – Versuch zur christlichen Lehre vom Menschen“ leih- oder besitzweise beschaffen kannst. Lies es einmal aufmerksam durch. Leider habe ich den Tasso noch nicht gelesen, wenigstens nicht so gelesen, dass es mir im Augenblick etwas sagen könnte. Es ist während mancher Jahre meine leise Sehnsucht gewesen, in einer abgeklärten Stunde ihn in mich aufzunehmen. Nun bist Du mir zuvor gekommen, erzähle mir etwas davon, Du weißt wundervoll präzis Dich darin auszudrücken, so dass aller Eindruck des Seichten, Halbverstandenen, konventionell Nachgebeteten fern ab bleibt. Dies macht so meistens alle Aussprache über das Geistige so unerquicklich und macht alle auch hochernste Bedeutung des Geistigen lächerlich. -
Was Dich noch interessieren wird: Ich habe hier in Stalino einige Platten gekauft 1,10 M das Stück und zu dem 1. Satz aus dem Klavierkonzert B-moll Opus 25 von Tschaikowski – ganz hervorragend gespielt, russischer Pianist und Orchester von Moskau – noch Werke von Rachmaninow. Eigentlich sind die Aufnahmen nicht so gut wie z.B. die des Klavierkonzertes B-dur von Brahms – erinnerst Du Dich noch des 2. Satzes gespielt von (Backhaus?), das allegro passionato, seine leidenschaftlichen Klänge, die ich Dir an jenem Abend vorführte bis spät in die Nacht – oder das Konzert C-moll von Rachmaninow – aber als Dokumente sind sie wertvoll genug, sie hier aufzubewahren. D’ailleurs, meine Schallplatten aus Paris,
es sind fast 100 an der Zahl, sollen heil und ganz in Köln angekommen sein. – In Paris lebt man selbst im Kriege noch nach der Mode, das gilt für die Frauen selbstverständlich, was nicht einigermaßen Hochmode ist, fällt auf - das taten dauernd die lieben „Deutschinnen“. Das gilt aber auch für die Männer, wenigstens die besseren Standes. Infolgedessen war ich in meinem Kostüm zwar dazwischen, fiel aber nicht weiter auf, auch nicht bei den lieben Landsleuten, und das war ja die Hauptsache. Für „hiesige“ Begriffe, wie Du sagst, wäre es so ziemlich unmöglich, leider, um so mehr unmöglich, was in Paris natürlich gilt.Paris dieses Babylon mit all seinenFehlern [...], es ist und bleibt eine Hochburg individueller Kultur, der Freiheit, man kann frei atmen in dieser Stadt, das wird einem bewusst, je weiter man vom Rhein ab nach Osten rückt. Schon in Deutschland fühlt man etwas, das kein Volk an den Ostgrenzen, die verstehen nicht einmal die deutsche Sprache. [Sinn?] Und weiter: wie weit wir schon international vermanscht sind: Kirgisen, Tartaren und wie all diese gelben Nomadenvölker heißen, stecken in deutscher Uniform, sie haben das deutsche Soldbuch, alles gleich. Ich habe einen deutschen Soldaten einen derartigen Unteroffizier grüßen sehen, dieser grüßte typisch - (..) undeutsch zurück. Es gibt dabei Gefreite, Obergefreite bis zum Feldwebel, viele sehen aus wie Japaner, andere wie Ost(...), andere wie Polaken, man redet sie an, die meisten verstehen kein Wort deutsch. Sie tragen unser „Ehrenkleid“, sind aber keine Deutsche , zum Totlachen, auf diese Weise ist ( weiter ?) gegen Osten jenseits der Elbe wohl auch einmal deutsch geworden. Der Brei wird immer unverdaulicher und unerquicklicher. Die Superklugen sagen, die kämpfen ja nur für uns, das mit dem Ehrenkleid ist ihnen plötzlich Schnuppe geworden. Ich muss schließen.
Lebe recht herzlich wohl, liebes Röschen.
Schreibe recht bald
Dein Theo