Theo Hoffmann an Freundin Rosalie Schüttler, 24. Dezember 1942
Rostow 24.12.42 [Poststempel Berlin]
Mein liebes Röschen,
im Augenblick erhalte ich Deinen lieben Brief, ein wenig traurigen Brief, der mir so hübsch von Kartoffelklößen und Rübenkraut, von Schwägerinnen und Erdbeeren erzählt. Und dann wieder Deine beiden Päckchen. Ich habe erst eines geöffnet. Ich wage es nicht, das andere zuöffnen, ein Gourmand, der ich bin, ich hätte es auch schon hinabwandern lassen, voll Bedacht, ein kleines Kleinod nach dem anderen auf der Zunge zergehen lassend. Diese Nüsse mit dem Schokoladenguss, unbeschreiblich delicieux, einem königlichen Geschenk würdig, ils avaient mérité leur place comme dessert à la table de l’empereur. Und diese süßen, zart-knusprigen Plätzchen als Dessert zum Dessert, welch ein Genuss. Wie kommst Du eigentlich an all das Zellophan-Papier? In besseren Zeiten, mein Gott, wie lange ist das schon her, wurden in den Konditoreien die Leckerbissen in dieser durchsichtigen Hülle luftdicht abgeschlossen. Wie verschwenderisch - schön das war, man nahm es als selbstverständlich hin, was ja auch selbstverständlich sein sollte.[...]
Apropos, Dein Päckchen ist am 12.10. abgegangen, heute ist der 10.11. – also braucht ein Päckchen circa vier Wochen. Wie man uns doch um die Zeit betrügt!
Ich habe Dir ja schon von den Platten erzählt, die ich gekauft. Par hasard (Zufällig) finde ich mein Grammophon gestern vor, das zwar kein Meister der Klangwiedergabe war, aber es immerhin tat. Nur waren im ganzen fünf Nadeln da, schon stumpf. Unter diesen (Bedingungen?) geht auch die beste Platte kaputt. Eine dieser Nadeln kostet hier 20-25M, tolle Preise. Ich wäre überglücklich, wenn Du mir 2-3dieser Nadeln zukommen lassen könntest. Auch wenn ich nicht hier bleiben sollte, so sind sie immerhin eine gewisse Möglichkeit, und wenn ich bis an das Ende der Welt marschieren müsste, so bedeuten sie keine nennenswerte zusätzliche Belastung.
Also die Platten, die ich gekauft, sind neu und gut. Einer bin ich ganz verfallen: es sind zwei Lieder von Tschaikowski , eins „Die Nacht“ (?), das andere ein Herbstlied voll so süßer Zartheit – eine wunderbare Stimme und eine (Piano forte ?)-Begleitung diskreter, überlegener Art. Es ist höchste Kunst, überragendes künstlerisches Niveau. Beide erscheinen mir musikalisch außerordentlich wertvoll, das soll ja nicht auf alle Lieder Tschaikowskis zutreffen. Dann habe ich noch einen schönen Glasunow erwischt. Das Borodin-
Streichquartett ist sehr sauber und klar gespielt. Du weißt ja, letzterer gehörte ja zum Kreis der Petersburger (----) , war Professor der Chemie und Medizin in Moskau - die der russischen Musik ihre natürliche Farbe gaben, mehr als Tschaikowski, der eine Synthese zwischen „der Kultur des Westens und der des Ostens“ musikalisch gesehen suchte und verwirklichte. Der Vater dieser neuen Musik war Glinka, der das Publikum in seine Opern „Ruslan und Ludmilla“ und „Ein Leben für den Zaren“ durch seine Dekorationen und Kostüme verführte und bezauberte, als etwas zu verändern durch seine Musik.
Der das tat war Dargomuischinskij , von dem ich ein Streichquartett und die Partitur zu Hause kenne.
In einem glänzend geschriebenen (franz.) Buch über Russen und russische Kultur fand ich folgende Notiz dazu, die ich nie so präzise ausdrücken könnte, ich schreibe es Dir im Urtext auf:
[Es folgt ein hier nicht transkribierter französischer Text über die Musikentwicklung in Russland im 19 Jh.]
Ich glaube, ich habe Dir früher öfter von der “Scheherazade“ gesprochen, eine Art „Programmsinfonie“ von Rimskij- Korssakoff, hörte sie 1936 zum ersten Male in Paris, ahnte ihre Größe und Schönheit, ohne sie zu begreifen. Es ist nicht ganz leicht, man muss den Klang, den Rhythmus (!), die Harmonie, die Dynamik ins Ohr bekommen – und wenn, dann ist man überwältigt, mitgerissen von dem Zauber dieser Musik. Im Winter 40/41 war sie mir eines der großen Werke, die mich leiteten, in tiefer Nacht, wie an Sommerabenden voller Unruhe...
Wenn ich auf Urlaub kommen sollte, werden wir es einmal gemeinsam hören. Ich habe zuhause eine nagelneue, vollendete Interpretation durch Strakowky [?] und dem Philadelphia Orchester. Es ist ein riesiges, umfangreiches Werk in vier Sätzen. Furtwängler hat es öfter in seinem Programm, es war 39 oder 40, da er es in einem Sinfonie-Konzert in Köln als Hauptwerk brachte – ich habe es da nicht gehört. Doch nach dem Urteil einiger Anwesenden hat es einen großen Eindruck gemacht, wurde aber von der großen Masse nicht begriffen. Der Beifall war rauschend, vielleicht weil es sich so gehörte. Ganz herrlich ist noch ein anderes großes Werk, welches mir gelang in Paris auf Schallplatten zu erwerben. Ich kannte nur die Partitur, hatte es nie gehört - R.-Korsakoff schreibt in seiner Selbstbiographie - diese ein Muster
der Bescheidenheit, der Selbstkritik und unpersönlichen, leidenschaftslosen Darstellung, die sich alle diejenigen zum Vorbild nehmen sollten, die etwas derartiges zu unternehmen beabsichtigen. Also es ist hier „La grande Paques russe“ – „ Selige russische Ostern „. Nebenbei kannst Du diese Selbstbiographie in der Städtischen Musikbücherei am Mauritiussteinweg ausleihen. Sie ist hochinteressant besonders auch von den kulturhistorischen Gesichtspunkten aus. Ich habe sie immer anschaffen wollen, doch es gelang mir nicht. Letzten Weihnachten, wo ich es absolut auf meinem Büchertisch haben wollte, war überhaupt nichts mehr zu machen. Kurz, alles in allem, ein höchst interessantes, bedeutendes, kluges Buch. Wenn Du es lesen wirst, wirst Du sicher ein ausgezeichnetes Bild des damaligen Russlands darin finden, wie eine Einführung in die Musik überhaupt.
12.11. In den letzten Tagen ist es recht kalt hier geworden. 10-15 Grad minus bei schneidendem Nord-Ostwind. [...] wird man gar nicht recht warm; jetzt geht es wieder besser. Zu allem Überfluss besuchen uns jetzt recht oft die russischen Flieger und werfen ganz anständige Kaliber. Die einzige Brücke über den Don, die einzige Zufahrtsstrecke zum Kaukasus, ein begehrtes Objekt, überfängt die ganze Stadt. Ich habe so den Eindruck, dass man im Winter an zwei Seiten (Stalingrad und Kaukasus) versuchen wird, die Stadt zu erreichen. Nach den letzten Ereignissen bietet ein solches Unternehmen große Chancen.
14.11. Weiterhin die Lage unverändert: Ich bin Stationsarzt von 100 Betten auf der Chirurgie
geworden, und habe einen Trost, dass ich in vielem über sehr gute Kenntnisse und Erfahrungen verfüge. Wie war es wichtig und günstig für mich, mich so lange allem zu entziehen und in eine chirurgisch gut fundierte Schule zu gehen . Ich stehe meinen Mann und bin doch manchem sogenannten älteren Facharzt schon überlegen.. Bitte verstehe mich richtig, es ist kein besonderes
[...] Können und daraus entsprechende Arroganz und überhebliches [...], es ist, es ist mir ein Trost. [...] und ich aus gewissen [...] heraus bin.
15.12. Heute erhalte ich Dein großes Paket welch ein herrlicher Inhalt, wunderbarste Fausthandschuhe, welch ein eleganter Schal, den „Tasso“, eingebunden in einer unbeschreiblichen Art. Verzeih mir, wenn ich Dir wenig schrieb. Ich war ganz ausgefüllt mit meiner Arbeit, ich war glücklich, hatte oder habe eine große Station, mittlere und schwere Chirurgie, ich ging ganz in meiner Arbeit auf. Frei und unbehindert war ich - jetzt muss ich mit einer schweizerischen Chirurgenkommission teilen, sehr nette, interessante,
aufschlussreiche Leute, mit denen sich gut arbeiten lässt. Diese Kommission wird sehr durch das Oberkommando gestützt. In wieweit dadurch mein allgemeines Schicksal beeinflusst werden wird, weiß ich natürlich nicht – vieles ist in der Schwebe, die Fronten stehen schwer .... wer weiß, wer weiß ...
Dieser Brief wird von einem Russen befördert, naturalisierter Franzose, 23 Jahre Chauffeur in Paris, der mein Patient hier war, ein sehr zuverlässiger und ehrlicher Mann, dem ich seine Reise nach Paris ermöglicht habe. Er nimmt Briefe für mich nach Paris mit. Den Brief mit dem Geld habe ich erhalten, hab recht herzlichen Dank – also insgesamt 30 M -. Es genügt mir vollends. Dann habe ich erhalten: „Hermann und Dorothea“, „Was ihr wollt“, “Hamlet“, noch „Der Widerspenstigen Zähmung“, Marc Aurel. Eines hatte ich noch vergessen: das eindrucksvolle „Maß für Maß“. Dann noch eines: auf die englische Grammatik könnte ich verzichten, ich habe hier eine gekauft. Um die Uhr brauchst Du Dich nicht zu kümmern. Ich habe sie für viel Geld reparieren lassen. Bisher läuft sie tadellos. Anbei lege ich zwei Luftpostmarken für alle Fälle.
Mein liebes Röschen, ich danke Dir noch einmal von ganzem Herzen für all die Liebe und Sorge, die Du für mich gehabt hast. Ich fühle mich furchtbar schuldig..., da mir so gar nichts bleibt. Denk nur ein wenig an mich, Weihnachten, wenn am Nachmittag und abends ,