Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 26. Mai 1943

26.5.43

Lieber Theo!

Gerade als ich meine letzten Briefe an Dich abgeschickt hatte, kam noch ein lieber Brief von Dir an, der mir wieder so manches von Dir erzählt. Hab Dank Du - ich muss dir noch einmal sagen, wie glücklich ich bin. Wenn ich Deine Briefe habe, ist mir so wunderbar, so königlich zumute, das beschwingt all mein Tun und Sein und durchleuchtet mir alle Tage, sodass nichts mir schwer und mühselig sein kann. Ich lebe augenblicklich nur mein eigenes Leben. Auch in dieser Woche brauche ich noch nicht ins Büro, und mit innerer Anteilnahme tue ich meine Arbeit in Haus und Garten.Selten, dass ich einmal nach Köln fahre, um meine Eltern oder Bekannte zu besuchen oder durch die Stadt zu schlendern, was nicht mehr allzu interessant ist. Die Notzeiten des Krieges mehren sich weiter- Frauen als Fahrer auf Lastwagen und Straßenbahnen, immer mehr geschlossenen Geschäfte, auf manchen Plätzen hässliche Barackenbauten für die Fliegergeschädigten, und schrecklich ist der nie schwindende Schuttberg auf dem Neumarkt, wo zwei Bagger dauernd mit dem Abräumen, Verladen in Straßenbahnwagen beschäftigt sind, während aus der Stadt immer neue Massen angefahren werden - Hier draußen kann man sich wohlfühlen. Meine Wohnung gefällt mir jetzt so gut

mit den vielen Blumen und dem grüngoldenen Licht, wenn die Sonne durch den Nussbaum hereinscheint. Alle Türen kann man jetzt weit offen lassen, das verursacht ein so angenehmes Empfinden von Weite und Unbeengtheit. Ich sehe hinaus in eine grüne Wildnis, die immer in schwingender Bewegung ist und kann mir einbilden, ich wohnte im tiefen Wald und lauterem Frieden. Kannst Du Dir denken, wie wohltuend es ist, bei einem schönen Buch zu sitzen und beim Nachdenken in diese bewegte Stille hinaus zusehen? Ich habe jetzt zufällig einen Liegestuhl kaufen können, und fast täglich liege ich eine Weile faul in der Sonne- beneide mich nicht allzu sehr, ich habe immer den Wunsch, Du möchtest mittun können . Im Garten ernte ich das erste Gemüse – und meine Radieschen; nie kann ich sie auf den Tisch bringen, ohne an unser schönes Abendbrot in Nürnberg zu denken: Radieschen mit Butter, und die köstlichen Champignons. Du warst so entzückend begeistert.Ich sehe das alles noch vor mir, den so einladend gedeckten Tisch, den schönen, vornehmen Raum und die angenehme Bedienung, und uns gegenüber der Tisch voller interessanter Menschen - erinnerst Du Dich? Albernerweise war ich ein wenig eifersüchtig, weil Du sie bemerkenswert fandest - und wie nahe hatte ich Dich damals doch noch.

Gestern Abend habe ich sehr gewünscht, Du wärst neben mir gewesen. Ich war im Kino - erdentrückt. Nie habe ich einen schöneren Film gesehen als dieses Mozartbild: ’Wen die Götter lieben’ - Ein Genuss nicht nur die Musik, sondern auch der Film an Darstellung und Ausstattung. Er beginnt mit der Reise nach Mannheim, und dann folgen Leben und Ereignisse um die einzelnen Opern, immer mit Ausschnitten daraus in großartiger Wiedergabe. Besonders eindrucksvoll war der Besuch Beethovens, als er Mozart eine seiner Kompositionen vorspielt. Ich weiß nicht, was es war, aber es hat mich erbeben lassen vor Ergriffenheit - wie auch die Klänge des Requiems, mit denen der Film schließt. Wie gerne hätte ich hinterher mit Dir mich über alles unterhalten. Ich rede so gern von diesen Dingen ,aber man findet so selten den rechten Widerhall, deshalb komme ich immer damit zu Dir. Wo der Film demnächst erscheint, werde ich ihn mir wohl noch einmal ansehen, vielmehr anhören, richtig Sehnsucht habe ich danach. Ich vertiefe mich jetzt gern in alles ,was Musik betrifft, und je mehr ich es tue, umso mehr merke ich, wie vieles mir fehlt. Ich habe wieder eingroßartiges Buch: von Guy de Pourtalés „Franz Liszt“. Es ist wunderbar, so klug und begeistert und fesselnd geschrieben. Manchmal weiß ich nicht, wen ich mehr be-

wundern soll, den Dichter oder den Beschriebenen. Der ganze Geist des Buches hat für mich etwas berückendes. Welche Gedanken und Aussprüche – und welche Menschen begegnen einem ,Musiker Dichter, Gelehrte, Fürsten und Könige, Kaiser und Papst, wohl alles was Rang und Namen hatte in diesen Jahrzehnten. Man fühlt sich in ganz Europa zu Hause und wie befreundet mit all den großen, genialen Menschen. Kennst Du das Buch? Es ist eins von denen, die man besitzen müsste, weil man oft und oft darin lesen möchte. - -Du schreibst, es würden bald einige Platten bei mir eintreffen, lieber Theo – mir hast Du Platten geschickt? Wie lieb von Dir , und wie ich mich darauf freue! Nun kann ich sie auf meinem Apparat ja einmal hören – oh ich werde sie hüten und sie Dir zu und sorglich aufheben. Aus Deinem Brief hat mich vieles so innig gefreut – Dein Bericht von Deiner interessanten Bekanntschaft und den schönen Konzerten – ich kann es mir gut denken, wie Du Dich dahineinversenkt hast. Und wie schön, dass Deine Arbeit gute Erfolge gehabt hat. Ich wusste es ja immer, dass Du klug und tüchtig bist, und es freut mich so sehr für Dich, dass es auch allgemein bemerkt worden ist. So muss man doch nun Dich schätzen und Dir gut sein. Ich empfinde darüber neben meiner Freude eine Art von beglückender Genugtuung –

wenn es mir auch nicht zukommt, so bin ich doch stolz auf Dich. –

Wo bist Du denn jetzt, lieber Theo? Du sagst nur: weiter frontwärts. Willst Du es mir nicht näher beschreiben, damit meine Gedanken genauer wissen, wo sie Dich finden können? Es hat mich sehr interessiert, was Du über die ganzen Verhältnisse sagst. Auch hier machen die Flieger so ziemlich was sie wollen. Wir müssen wieder öfter für 2-3 Stunden nachts aufstehen und können dann das grausame Spiel über dem Ruhrgebiet beobachten. Nach Essen ist nun Dortmund an der Reihe zerstört zu werden. Man hört schreckliche Dinge von da. In der vorigen Woche haben die Engländer eine furchtbare Katastrophe verursacht durch die Beschädigung unserer beiden größten Talsperren (Möhne und Eder). Ich kann mir zwar kaum denken, wie sie die meterdicken Staumauern durchschlagen konnten, aber es soll ein Wasserflugzeug mit Torpedos gewesen sein. Jedenfalls sind ungeheure Wassermassen ins Land geströmt, die ganze Dörfer vernichtet und viele Menschenopfer gefordert haben. Die Fama nennt

12 000, die Zeitung 370 und 400 Gefangene - die Wahrheit wird wohl in der Mitte liegen. Bis Hagen stand das Wasser, und in Dortmund wurde der Wasserverbrauch literweise eingeteilt. Und wie viel Schaden war erst (im Sinne des Krieges) die Arbeitsunterbrechung

in den von den Talsperren abhängigen Werken. Das ganze war eine ziemlich genial-teuflische Idee. Man hat jetzt bei allem den Eindruck von einer gewissen Hilflosigkeit. Deine Meinung und Befürchtung für die Zukunft möchte mich ein wenig unruhig machen, zumal ich mir dasselbe sagen muss. Gott bewahre Dich und befreie Dich rechtzeitig aus diesem Land. Ich bin aber andererseits auch wieder zuversichtlich und habe das sichere Gefühl, dass Du heil heimkommen wirst. – Ja, Urlaub müsstest Du wirklich bald einmal haben, lieber Theo. Man müsste ihn Dir doch nun als Anerkennung für Deine Arbeit endlich geben. Dass so wenig gute Aussichten dafür vorhanden sein sollen, das lässt mich zuweilen tief traurig sein. Ich habe immer größeres Heimweh nach Dir.-Gestern konnte ich endlich Dein Paketchen fertig machen und habe es soeben abgeschickt. Hoffentlich macht es Dir Freude. Ich habe allerlei Gebäck nach alten Rezepten hergestellt, wovon mir die Namen so gut gefielen: Heidesand, , Terrassen und Osterküsse – ist das nicht hübsch? Man könnte ein kleines Gedicht daraus machen. Es ist auch alles einigermaßen gelungen – wenn es nur gut bleibt auf der langen Reise. Die Namen habe ich Dir dazu geschrieben, damit Du weißt, was für interessante Dinge Du verspeisen wirst. Heute traf ich beim Einkauf zufällig die Frau, deren Mann ich das Osterpaketchen

für Dich mitgegeben habe, sie fragte, ob Du es richtig bekommen hättest, denn ihr Mann habe es nicht am Bahnhof in Dnjepropetrowsk abgegeben, sondern einem Reisegefährten, der Dich kennen und es Dir bringen wollte. Da Du es dann aber am Karfreitag hättest haben müssen, in Deinem letzten Brief aber nichts davon sagtest, wird es wohl verloren sein. Schade. Nun, ich hoffe, dass recht bald das heutige Päckchen bei Dir sein wird. Schreibe mir bitte einmal , lieber Theo, ob Du irgendetwas notwendig hast, ganz gleich was es ist, oder was Du Dir wünschst, ich habe ja noch ein weiteres Paketmärkchen .Ich möchte gern dazu helfen, dass Du Dich auch in der Fremde ein wenig wohlfühlen kannst und etwas getröstet bist, wenn Du auf den Urlaub noch warten musst. Das wünsche ich Dir jeden Tag, dass Du bald einen langen, schönen Urlaub haben wirst, auch wenn ich nicht an mich denke dabei.

Lebwohl lieber Theo, bleibe gesund –

ich grüße Dich herzlichst!
Deine Röschen