Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 20. Juli 1943
20.7.[1943]
Lieber Theo,
die einzige Möglichkeit, meinen Kummer ein klein wenig zu vermindern, ist nur: Dir zu schreiben, obgleich ich wohl kaum aus meinem Herzen heraus erzählen darf - Du magst es gewiß nicht allzu gern hören, wie hilflos traurig ich bin. Es tut mir auch immer noch leid, dass ich mich bei unserem letzten Zusammensein nicht besser beherrschen konnte, aber schon den ganzen Tag vorher ist mir Dein Wiederfortgehen so grausam bewußt gewesen, dass ich nun gegen mein Gefühl völlig machtlos war. Und es war mir auch ganz unmöglich, nach dem Abschied gleich mein Rad umzudrehen und wegzufahren - kannst du es nicht verstehen, welch ein verzweifelter Jammer es ist, einen geliebten Menschen wegfahren zu sehen auf Lange Zeit, nein schlimmer noch, auf ungewisse Zeit und in ungewisses Schicksal? Glaub mir lieber Theo, in einem solchen Augenblick hat man keinen Willen.- Ich bin schließlich wie ohne Bewußtsein fortgegangen, bis mir der Gedanke kam, Dich noch einmal anzurufen. Ich wollte nur noch einmal Deine Stimme und ein gutes Wort von Dir hören, und es war so tröstlich für mich, dass ich noch einmal mit Dir sprechen konnte. Trotzdem musste ich auf dem ganzen Heimweg mir immer wieder die Augen ausreiben, weil ich nicht mehr sehen konnte. Zu Hause habe ich gleich mit meiner Arbeit an den Lebensmittelkarten begonnen, die ganze Aufmerksamkeit erfordert - dennoch konnte ich meine Gedanken nicht hindern, die Zeit und Deine Abschiedsstunden zu Hause zu verfolgen. Gegen Abend ergriff mich eine schreckliche Unruhe, es zog mich mit tausend Gründen und Vorwänden zum Bahnhof, und es hat mich Mühe genug gekostet, mich hinzuhalten und zu zögern bis es zu spät war. Du hättest mich wohl nicht gern am Bahnhof
gesehen? Dieser Gedanke trug natürlich dazu bei, alles noch schwerer zu machen. Plötzlich war ich wie zerbrochen vor Müdigkeit, unausgezogen habe ich mich hingelegt, aber der Schlaf wollte lange nicht kommen. Und auch später bin ich immer wieder aufgewacht, habe nachgerechnet, wo Du inzwischen sein könntest, und gewünscht, dass Du eine gute Fahrt hast - dass alle Engel dich behüten möchten. Es ist ein menschlicher Trost, ein liebes Leben in den Schutz der guten Geister befehlen zu können, ich bin sicher, dass sie mich hören, sie haben Dich bisher so gut behütet , sie werden es auch weiter tun. Und wenn Dein Vater fürchtet, dass Du nicht wiederkehrst aus aller Gefahr, dann setze ich die ganze Kraft und Inbrunst meines Glaubens und Hoffens dagegen, dass Du dennoch glücklich wieder heimkommst. - -
Du musst mir immer genau schreiben , wo Du bist, lieber Theo, Ort und Truppe, alles, vielleicht ist es einmal gut, dies alles genau zu wissen. Hoffentlich erreichst Du Deine Truppe recht bald, sonst kannst Du ja gar keine Post bekommen - aber ich wünsche Dir so herzlich, dass Du nicht in den gefährdeten Stellen bleibst, sondern bald an ruhigeren Orten arbeiten kannst. Ich ersehne schon jetzt so sehr eine Nachricht von Dir.-
Du bist nun seit 18 Stunden unterwegs. Ob Du mir von der Reise wohl einmal schreiben kannst? Ich würde gern wissen, was für nette Episoden Du wohl wieder erlebst - oder wie Dir zumute ist, ob Du ein wenig traurig bist und Dich mach Hause zurücksehnst. Zuweilen wünsche ich mir, Du möchtest ein einziges Mal solches Heimweh nach mir haben, wie ich es nach Dir immer leiden muß. Mir ist entsetzlich elend zumute. Ich habe versucht, Musik zumachen, Das ist unmöglich. Ich sehe bei diesen Klängen so deutlich, wie Du hier überall umhergegangen bist, sehe
wieder jede Deiner Bewegungen, höre alle Deine Worte und Ausrufe bei den Stellen, auf die Du mich aufmerksam machtest, und fühle doch so tief mein Alleinsein, dass es nicht zu ertragen ist. Mitten im Spiel, es war die Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, mußte ich abbrechen - Aber ich will dennoch alle Traurigkeit nicht hergeben, -weil es so wunderbar schön gewesen ist, als Du bei mir warst. Ich habe doch viele Stunden Dich für mich gehabt - warum soll ich Dir für dieses Geschenk nicht danken dürfen? Ich muß an den Sinn Deines Namens denken, Du wirst doch wissen, das er ‘Gottesgeschenk’ bedeutet? Ja, ich war unbeschreiblich glücklich in der ganzen Zeit, die Du hier gewesen bist. Das ist Dein Verdienst, und dafür muss ich Dir danken lieber Theo. Es wäre wunderschön, wenn auch in Deiner Erinnerung ich zum Frohen und Schönen Deines Urlaubs zählen würde - trotz der Mißgunst mancher Tage. Wie vollkommen wäre alles gewesen, wenn ich nur von Heumar aus mit Dir hätte telefonieren können. Mir wäre soviel mehr Zeit geblieben zur besseren Vorbereitung, meine Wohnung ist sonst so viel gepflegter, und kein Fehler würde Dich gestört haben. Du darfst nur noch an das Gute denken, lieber Theo - Ach, ich hätte Dir alle Schönheit und Freude der Welt schenken mögen. Du bringst immer so viel Wundervolles mit Dir. Die Atmosphäre meiner Wohnung ist noch ganz von Dir erfüllt, überall ist noch eine Spur von Dir zurückgeblieben ,an Geruch, an von Dir gebrauchten und verstellten Dingen, herumliegenden Platten - Dein ‘Aperitif’-Glas - alles zeigt mir Dich, Dein liebes Gesicht, Dein Lächeln, das mir so manchen schnelleren Herzschlag verursacht--.Zuweilen bist Du so entzückend jungenhaft, und ich kann es gut verstehen, wie Deine ’Hoffmanniaden’ Dir selber Freude machen. Du hast ein seltsam bezwingendes Wesen, man muß Dich verwöhnen - irgendwo las ich einmal:
alle reizvollen Menschen sind verwöhnt, das ist das Geheimnis ihrer Anziehungskraft. Bei Dir ist aber das Liebenswerte in Deinem wirklichen Wert begründet. Deine noch nicht verklungene Gegenwart in meiner ganzen Wohnung zeugt davon.
Ich kann es keinen Augenblick vergessen, wie schön es ist, Dich so nahe zu haben, mit Dir zu reden, zu ‘speisen’, Musik zu hören. Von der Matthäus-Passion muß ich Dir eine kleine Geschichte erzählen - ob ich es darf? Aber Du kannst mir eigentlich nicht böse darum sein .-
Als Du mir hier daraus vorspieltest, war ich ein wenig verwirrt. Ich hatte mir damals zu der Aufführung keine Karte beschaffen können, aber ich habe die Musik doch gehört. Am Karfreitag war ich so unglücklich - Du hattest all die Zeit nicht geschrieben - dass ich ohne Überlegung abends nach Bickendorf fuhr, nur um kurz an Deinem Elternhaus vorüberzugehen, als ob ich dort irgend etwas von dir finden müßte. Unterwegs, als ich schon ebenso plötzlich umkehren wollte, fiel mir ein, dass wahrscheinlich Deine Eltern die Passion für Dich gekauft hätten und gewiß an diesem Abend spielen würden. So war es wirklich, ich hörte es schon, als ich bloß in die Nähe kam, und so habe ich wohl eine Stunde auf eurer Türschwelle gesessen und gelauscht. Um mich war es stockdunkel und sehr still - nur die Passion--.Von Musik kann ich Dir ja nun nicht mehr erzählen, du hast mich so hart verurteilt. Ich weiß aber, dass ich besser und mehr aus der Musik höre, als Du annimmst, und es gehört zu meinem liebsten und eindrucksvollsten Erinnern, Deine wunderbaren Platten gehört zu haben - wie konnte ich sie aber gleich erfassen, da ich die meisten zum ersten Mal hörte? Und außerdem hatte doch Deine Gegenwart die gleiche starke Wirkung auf mich wie die Musik. Aber wie gut zeigst Du mir alle
Schönheiten. Ich bin sicher, mit Dir würde ich bald hören, was mir jetzt noch fehlt! Wie geht es mir denn bei unseren Gesprächen - Dein Geist reißt mich mit hoch. Wenn ich Dir so zuhöre über Zustand und Sinn der Welt, wird es wie weit und hell in mir, und ich komme leicht und klar zum Erkennen der Dinge. Ich möchte nur einmal jede dumme Scheu vor Dir verlieren, um Dir ungehemmt dann all meine Gedanken sagen zu können. Ach, so lange Du auch da warst, ich hätte die Zeit doch immer noch dehnen mögen - um Dir noch manches zu zeigen, mit Dir zu reden, und zu lesen - da sind vor allem noch die Briefe des Hyperion und der Diotima – Ich habe es Dir einmal gesagt: drei lange Tage hätte ich mir mit Dir gewünscht. - Das ist das Schwere für mich. Du bist in jeder Hinsicht ganz so, wie ich mir schon immer in stillen Stunden einen Menschen gewünscht habe - und Du bist doch nicht für mich auf der Welt. Ich kann es Dir nicht sagen, was alles mich so unwiderstehlich zu Dir zieht, aber glaub mir, Lieber Theo, es wird nie wieder eine Frau geben, die so tief wie ich erkennt, wie wundervoll Du bist. - Wie unausdenkbar schön wäre es, wenn du mich liebtest, ich möchte das Schicksal anklagen, weil es mich nicht so sein läßt, dass Du mich liebgewinnst - da ich Dich lieben muss. - - Vielleicht kannst Du aus all diesem verstehen und glauben, dass es unmöglich für mich ist, neben oder nach Dir einen Menschen zu lieben, dass ich auch alle Liebe nur durch Dich gelernt habe, und dass mein einziger Wunsch, nachdem der Größte sich nicht erfüllt, nur ein Kind sein kann.
Eins muss ich Dir aber noch einmal sagen, lieber Theo; ich habe niemals die Absicht gehabt, oder auch nur daran gedacht, Dich ‘hereinzulegen’. Da Du nichts fragtest
und meinen Wunsch doch kanntest, glaubte ich Dich damit einverstanden - und allein schon darüber war ich sehr, sehr glücklich.
Das ist die reine Wahrheit - es war sehr hart für mich, dann Deine ernsten Bedenken zu hören, obgleich ich ja weiß, dass im Grunde meine Einstellung eine ganz unglaubliche ist. Da es Dir solchen Kummer machen würde, kann ich es nun auch nicht mehr so inbrünstig wünschen, wenn auch die Sehnsucht bleibt, trotz allem. In einigen Tagen ist es wohl entschieden. Bitte lieber Theo, hab doch keinen einzigen trüben Gedanken darüber. Du solltest wissen, dass Du mir immer ganz vertrauen kannst. Ich habe ernstlich nicht selbst zu ergründen gesucht, ob unbewusst irgendeine eigennützige Absicht in mir ist, aber da ist als einziges der wohl nicht schwerwiegende Wunsch, dass Du im Grunde Deines Herzens mich nie möchtest völlig vergessen können.
Lieber Theo, sei mir bitte nicht böse, wenn ich Dir nun doch wieder allzu viel geschrieben habe - es soll nichts Dich betrüben und beunruhigen, aber ich durfte Dir doch aus meinen Gedanken und Empfindungen schreiben? Ich verspreche Dir, dass ich fröhlich sein werde. will - denke nur ein wenig gut an mich, und schreibe mir bald.
Ich grüße Dich herzlich lieber Theo
Lebwohl-Lebwohl
Deine Röschen