Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 2. August 1943
2.8.43
Lieber Theo!
Heute ist der letzte Tag meiner schönen Freiheit. Nachdem ich nun fünf Wochen Ferien hatte, muss ich morgen leider wieder ins Büro. Die MBA hat mir geschrieben, dass jetzt das Büro vorübergehend auf dem Lager eingerichtet ist, und dieses Lager ist weit hinten in Braunsfeld; den Weg muss ich mir erst noch suchen. Mir graut einigermaßen vor dieser langen Fahrt bei den augenblicklichen Verhältnissen, und vor diesem wahrscheinlich wenig schönen Provisorium. Umso mehr genieße ich noch diese Tage in grenzenloser Faulheit. Wir haben schon die ganze Zeit glühende Sommerhitze, die sich täglich fast noch steigert. Das macht Geist und Körper schlaff und träge. Und doch ist es schön, so in heißer, heuduftender Luft förmlich zu baden. Ich laufe nur noch in Sandalen und im leichten Gartenanzug herum und habe mein ganzes Tagewerk wieder nach draußen verlegt.
Mit Sonnenuntergang muss ich allerdings flüchten, da sonst die Mücken mich als Festschmaus betrachten. Aber die Tage sind ja lang. Das schattige Rasenstück hinter dem Haus ist zeitweilig zur Familienstube der Hausgenossengeworden. Das ist ein älteres, kränkliches Fräulein, die berufsmäßig Strümpfe stopft und sehr nett ist, und die Witwe vom1. Stock, mit der man ebenfalls auskommen kann, wenn sie auch kein Geisteslicht ist. Natürlich bin i c h das Prunkstück – hm hm. Außerdem ist da noch meistens der Stroppi, der sogar mit mir unter die Brause geht, wenn wir im Garten gebuddelt haben. Du wärst überrascht, wenn Du mich jetzt sehen würdest: ich bin so braun wie niemals sonst, und mein Haar sieht ganz sonnenfarben aus, sodass ich mir selbst ein wenig fremd bin. Aber alle Leute bewundern mich (!) – Es wäre viel hübscher, wenn Du es tun würdest –
lache nicht, Du –
Ach Theo, Du müsstest noch da sein! Es ist alles so schön jetzt:
Sommerduft, Sommerwind, Sommerblumen, Sommerfrüchte - Sommerstimmung. Ich möchte so gerne jetzt mit Dir eine Waldwanderung machen unter hohen, kühlen Buchen oder dunkelwarmen Tannen, durch verträumte Schluchten - bis zum allerschönsten romantischen Fleckchen, wo man sich niederlegen kann und sich Herr und König des Waldes und der Welt und des schönen Lebens fühlt. Würde Dir das nicht Freude machen? Wenn ich in diesen Tagen so aus meinem Liegestuhl in den Himmel sehe, oder in die wispernden Pappeln vor mir, dann träume ich davon - und es ist viel Sehnsucht in mir. Wenn ich nur wüsste, wie es Dir geht, lieber Theo. Ich denke fortwährend daran, was für eine Lage Du dort wohl angetroffen hast, und wie die Tage nun für Dich verlaufen. Du bist nun
schon wieder so lange fort. Wann werde ich wohl eine Nachricht von Dir bekommen? Ich bin ja so froh, dass ich Deinen kleinen Brief habe, lieber Theo – das Warten ist damit viel leichter, und ich fühle mich nicht mehr so sehr allein.
Du weißt gar nicht wie glücklich mich ein gutes Wort von Dir machen kann. Die kleinsten Dinge können mich wieder freuen. Ich beobachte ein Vogelpärchen beim Nestbau in der Dachrinne, wie sie mühselig mit langen Halmen anfliegen und schließlich ausruhen bei zärtlichem Spiel. Es ist zu nett. Ein Vogelnest am Haus soll ja wohl Glück bringen, aber eigentlich müßten es Schwalben sein - wie gern man doch abergläubig ist, wenn man sehnsüchtige Wünsche hat.- Du siehst aus all dem, welch ein friedliches Sommeridyll hier noch herrscht. An diesen stillheißen Tagen ist einem der Krieg zuweilen unfaßbar und die nächtliche Bunkerfahrt rückt in
nebelhafte Ferne, bis plötzlich die Sirene wieder einmal ertönt. Es ist ein Jammer, dass uns so der schöne Sommer vergällt wird. Nie habe ich so bewußt die Schönheit aller Dinge - ich möchte fast sagen, jeden Grashalm gesehen, wie in diesen letzten Monaten, da so abscheuliche Verwüstung droht. Ich glaube, man lebt intensiver, wenn man täglich den Tod vor Augen hat. Der Bunker ist ja wohl der sicherste, aber doch kaum ein sicherer Schutz. Letzthin wäre fast eine Panik da unten ausgebrochen. Es ging draußen etwas lebhaft zu, sodass ich auch mal nach unten ging, und es war alles in Ordnung bis plötzlich in einer Ecke ein entsetzliches Schreien begann, gellend und anhaltend. Die meisten Frauen sprangen auf und drängten heraus; ich habe mit beiden Armen aufgehalten und beruhigt, denn es konnte kein Grund zum Weglaufen sein. Schließlich erfuhr man: ein Mädchen war mit
den Haaren in die Welle der Luftmaschine geraten, wodurch ihr fast die ganze Kopfhaut abgerissen wurde. Das war wohl schrecklich genug, aber das allgemeine Schreien war nutzlos und furchtbar. Da kann man sich ein Bild machen, was zu erwarten ist, wenn schlimme Dinge geschehen sollten. Die Menschen sind so kopflos geworden. Und wenn ich dann so gelegentlich die Zeitung lese --- ich schicke Dir spaßhalber eine Blüte -
Wie geht es Deiner Mutter, lieber Theo? Erzähle mir einmal, was sie aus Neuenahr schreibt –erzähle mir vor allem recht bald von Dir, Du weißt, wie vieles ich gern von Dir wissen möchte. Von mir wirst Du vor diesem meinen Luftpostbrief und auch die Beiden anderen wohl bekommen haben?
Ich hoffe, dass meine guten Wünsche für Dich alle wirksam sind –
Lebwohl lieber Theo-
Liebe, liebe Grüße!
Deine Röschen