Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 5. August 1943

5.8.43

Lieber Theo!

Den Rest dieses Tages möchte ich noch mit Dir verplaudern, es ist dann fast, als wärst Du da und würdest mit mir Deinen Geburtstag verbringen. Ich hoffe, dass er freudig und glücklich für Dich gewesen ist. Meine Gedanken haben heute oft und viel gute Wünsche und Grüße zu Dir hinübergesandt, dass Du es eigentlich gespürt haben müsstest. Hast Du meinen Luftpostbrief wohl rechtzeitig bekommen?

Die Postverhältnisse sind ja jetzt katastrophal. Es braucht Tage, bis ein Brief erst aus Köln herausgeht oder die Ankommenden zugestellt werden. Die Mindestlaufzeit der Briefe innerhalb Deutschlands beträgt jetzt 6 Tage, wobei es gelegentlich aber auch auf 3 Wochen kommt. Daher habe ich auch immer noch ein ganz klein wenig Hoffnung, vielleicht

doch einen Gruß von Deiner Reise zu bekommen. Du musst nicht kopfschütteln, die Zeit wird mir so sehr lang, bis ich wieder von Dir höre.

Ich habe Musik gemacht heute Abend, mit all den Platten, die hier noch von Deinen Händen verstreut lagen – Du wirst Dir denken können, dass es mich ein wenig angegriffen hat, doch es war eine wunderschöne Feierstunde. – Ich brauche sie auch sehr.

Mein Tagewerk augenblicklich ist hässlicher denn je, allein schon durch die lange Reise in den überfüllten Bahnen mit der umständlichen Verbindung. Die K fährt zwar wieder zum Heumarkt, aber dann gehe ich bis zum Neumarkt durch die trümmervolle stellenweise eklig und faulig riechende Schildergasse zu Fuß, weil es mir zuwider ist,

in den Omnibus stets mich hineinzukämpfen. Vom Neumarkt fahren gottlob wieder die Bahnen, doch in Braunsfeld habe ich dann nochmals 20 Minuten Fußmarsch bis zu meiner Arbeitsstätte – wo mich dann ein anderer Graus erwartet.

Du kannst Dir gewiss vorstellen, wie es auf solch einem Lager für Maschinen und Eisenteile aussieht: weder schön noch besonders ordentlich. In den verstreut liegenden Wellblech-Schuppen sind nun die Büros eingerichtet: eng, dreckig, unbequem – und glühend heiß. Die Sonne macht aus dem Wellblech einen glutspeienden Ofen. Man kann kaum atmen. Vier Menschen arbeiten so auf 4 qm Raum, mit mir der Lagermeister, einer der Chefs und eine Kollegin. Wenn wir nicht zuweilen mit den Herren eine Unterhaltung beginnen,

ist es dumpf und stumpf – da sind Gedanken an Dich mir ein Zauberland; ein heimliches, tiefes Glücksgefühl, und ich bin weit entfernt von meiner Arbeit und meiner Umgebung. –

Um4 Uhr ist glücklicherweise schon Büroschluss, und dann wird zuerst eine Erfrischung genommen. Wir haben in Braunsfeld ein Café entdeckt, in dem es erstaunlich gutes Eis gibt, das ist nun unseren ausgeglühten Körpern eine Labung. Dadurch bin ich erst fähig, die strapaziöse Heimfahrt anzutreten, die auch immer ein tolles Erlebnis ist. Die Menschen sind fast alle in „Krawallstimmung“, wie man hier so nett sagt, und wenn es nicht wüstes Geschimpfe oder Schlägereien gibt (gestern mussten 2 Männer blutüberströmt aus der Bahn herausgesetzt

werden), dann hört man allenthalben von schrecklichen Schicksalen. Schmerzhaftes Mitleid habe ich oft mit den Menschen, selbst dann, wenn sie mir widerwärtig sind in allem Gedränge. Und es greift mich auch immer wieder an, stets all die endlose Zerstörung unterwegs zu sehen. Du kannst Dir denken, dass ich so ziemlich erschöpft nach Hause komme, und wenn außerdem noch in der Nacht Alarm ist, dann ist wirklich das Maß voll. Vorgestern hatten wir wieder einen ganz gehörigen Schrecken. Störflieger haben uns ein paar schwere Bomben fast in den Rücken geworfen. Halb Heumar war   unterwegs zum Bunker, da hörte man schon das Motorengeräusch und dann plötzlich ein so grausiges Kreischen und Reißen, als wollte die Erde bersten.

Ich war mit einigen Sätzen unter der Autobahn an der Mauer, als die Detonationen kamen. Zum Glück sind die Dinger nur ins Feld gegangen, links hinterm Bahnhof, ich hatte in der Wohnung nur Staub und Mauerkalk zu fegen, die Fenster waren alle offen – aber was hätten sie, etwas näher, unter all den Menschen auf der Strasse angerichtet! Die haben so schon wieder fürchterlich geschrieen, als ob sie die Splitter schon im Leib hätten. Ich kann dieses wilde Schreien ja nicht verstehen – das wirkt auf mich härter als die Bomben, und seit diesen beiden Malheurabenden gruselt’s mich einigermaßen vor dem Alarm, was ich bisher nicht gekannt habe. Jetzt gerät übrigens auch Berlin in Angst, man hört von

allgemeinem Flüchten. Schrecklich – wenn dies alles doch nur endlich aufhören würde. Man weiß wieder kaum, was man von den augenblicklichen Nachrichten halten soll; sie rufen: Sieg, und wie schlimm es eigentlich steht, das sieht man nur aus kurzen Nebensätzen, deren Sinn einem oft erst aufgeht, wenn man schon weitergelesen hat. - Ich studiere die Russlandkarte und möchte gerne wissen, wo Du bist lieber Theo – Du musst mir immer den Ort schreiben, ich kann mich gar nicht mehr auf den Namen besinnen. Wenn ich doch nur schon eine Nachricht von Dir hätte! Ich bin dabei, das versprochene Paketchen für Dich vorzubereiten, und an meinem nächsten freien Tag soll es auf den Weg kommen. Heute schicke ich Dir ein

hübsches Bild aus dem „Stadtanzeiger“, mit dem netten Aufsatz dazu, der einem den alten Stadtwinkel so deutlich vor Augen bringt. Einmal bin ich dort bewegt und begeistert gegangen - es tut doch weh, das dies alles nun unwiederbringlich verloren ist.

Lieber Theo, ich hoffe, dass es Dir recht, recht gut geht, und dass Du glücklich bist – vergiss nur nicht, mir von allem zu erzählen.

Es grüßt Dich herzlichst
Deine Röschen

Es handelte sich um den 29. Geburtstag von Theo Hoffmann.