Annemarie F. an Theo Hoffmann, 7. August 1943

Köln-Deutz, den 7.8.43

Lieber Theo!

Die Bibliothek ist leer, das Klavier abgeschlossen, das Radio durch irgendeinen unbegreiflichen Trick unbrauchbar gemacht; sonst nur eine leere Wohnung, in der jeder Tritt unheimlich hallt. Was macht man da, wenn man so mutterseelenallein ist wie ich? Man durchstöbert alle Winkel nach Briefpapier, Tinte und einem alten klapperigen Korrigierfederhalter und

schreibt einen Feldpostbrief. Ab und zu läuft einem eine Gänsehaut über den Rücken bei dem Gedanken: „wenn Papa das sähe, o weh!“, aber die alten Herrschaften sind außer Reichweite , während die Tochter sich in den einst so schönen heiligen Hallen unsagbar langweilt, um gesund zu werden. Eh bien, die schlimmste Langeweile ist besser als die Tier- und Menschenquälerei in Rolandseck. Seit jener denkwürdigen Nacht am 14. Juli hat sich dort allerlei ereignet. Zuerst wurde das Heim Übergangsstation für fliegergeschädigte Mütter mit mehr als vier Kindern im Alter von 0- 6 Jahren , deren Pflege und Betreuung der Studentin übergeben wurde. Drei davon habe ich mit Erfolg

entlaust. Ich kann nicht sagen, dass es folgsame und artige Kinder waren. Waschlappen, Kamm, Zahnbürste und Seife waren ihnen bisher unbekannte Folterinstrumente. Stop, meine altersschwache Feder bekommt die Gelbsucht, wenn ich weiter berichte. –

Kurz und gut. Eines Tages wurden alle Heiminsassen herausbefördert und Kinderkörbchen, Windeln und eine Hebamme mit allerlei Folterinstrumenten hielten ihren Einzug. Für die Hausangestellten, von denen ich die Sonderbeauftragte für besonders schmutzige Arbeiten bin, gab es nur noch Tage von 1/6 – 10 Uhr abends ohne irgendeine Ruhepause. Dies machte ich eine kurze Zeit mit, bis ich eines Tages einfach nicht mehr

stehen konnte. Da brachte ich es fertig, Krankheitsurlaub nach Köln zu bekommen. Trotzdem es in meiner nächsten Umgebung recht traurig aussieht, bin ich in den vier Tagen meines Hierseins schon etwas aufgelebt und mir graust vor dem Gedanken, bald wieder in dieses Dienstmagddasein zurückkehren zu müssen. Ob die Töchter „anderer“ Kreise auch auf diese Weise zum „totalen Sieg“ beitragen müssen?!

Ich bin nur gespannt, ob eine Eingabe, die ich bei der Studentenführung gemacht habe, Zweck hat. Ich zähle die Tage bis zum 9.Juni 1944. Heute sind es noch 306, eine furchtbar lange Zeit! Werde ich sie noch alle durchmachen müssen? Wen Sie dieser Brief erreicht, sind es sicher schon viel weniger; denn

nach Russland dauert die Post doch sicher vier Wochen. Ich bin mal gespannt, ob ich bald ein Lebenszeichen von Ihnen erhalten werde. Es wäre mir eine grosse Freude in diesem stumpfsinnigen Dasein. Sie habe sich doch sicher nicht zu sehr geärgert über meinen letzten Brief; das täte mir leid; denn nach reiflicher Überlegung finde ich, dass ich Ihnen vielleicht doch Unrecht getan habe und nehme die besonders angeführten Punkte zurück. (Maintenant je veux regarder votre mine)

Ich bin eben doch ein kleines dummes Mädchen, das im Laufe der letzten Jahre verlernt hat, daran zu glauben, dass das Leben noch einmal schöne werden kann; denn bis jetzt

hat es mir nur Krankheit und Arbeit gebracht und allermeistens hatte ich Pech. Da soll man den Glauben nicht verlieren. Bei Ihnen ist es ja umgekehrt, Sie haben all das in natura gehabt, wovon ich nur träumen kann... Nun will ich aber aufhören damit, sonst werde ich noch melancholisch.

Au revoir, cher et aimable Monsieur, jusqu’au jour où l’on peut dire : « me revoilà » recevez les salutations les plus cordiales et peut-ètre…

     de votre petite amie

                                                               Annemarie!

J’ai acheté aujourd’hui un parfum francais qui me souvient beaucoup à vous: ATCIA Pamphile Paris France

[Beigelegt ist eine Kunstpostkarte mit französischem Text auf der Rückseite. Die Übersetzung lautet:]

 

Bewirkte das die Lektüre von „Souvenir“ von Musset?

Lieber Theo!

Aus meiner zerstörten Wohnung sende ich viele herzliche Grüsse und hoffe, dass mein trauriger Brief Sie nicht zu sehr irritiert hat! Aber an jenem Tag war ich in schlechter Stimmung. Zur Zeit bin ich in Köln, um mich von meiner Krankheit zu erholen. Auf Wiedersehen großer Krieger, vielleicht bis bald

Annemarie

Jetzt möchte ich Ihr Gesicht sehen.