Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 7. September 1943

7.9.43

Lieber Theo!

Hab vielen herzlichen Dank für Deinen lieben Brief – endlich, endlich gestern ist er gekommen, ich habe weinen müssen, nur weil ich so froh war. Mit welcher Erwartung habe ich diesen ersten Brief nach Deiner Rückkehr in die Fremde geöffnet: Es ist schön, einen Brief von Dir zu lesen - wenn dieser auch in mancher Hinsicht nicht leicht zu tragen ist. Ich habe es wohl gewußt, wie schwer zunächst wieder aller Zwang auf Dir lasten würde und verstehe nur zu gut die innere Auflehnung gegen Enge und Unfreiheit. Wenige werden diesen Druck so tief empfinden wie Du.

Und doch, wie wenig wird die Zukunft uns bringen, wenn nicht vieles sich noch glücklich fügt? Es ist entsetzlich, wie man uns immer tiefer in den Abgrund geführt hat. Schon manche fühlen es und suchen sich zu retten. Auf meiner Reise hörte ich von einem Soldaten, dass viele seiner Kameraden eifrig russisch lernen und mehrere sich aus dem Urlaub Zivilkleidung mitgebracht haben!

Es drängt alles zum Ende, und was jetzt geschieht in Italien, Dänemark, Schweden oder sonstwo, und nicht zuletzt in Rußland und in der Heimat, das scheint mir wie tanzende kleine Steinchen, die langsam sich regen und schließlich den großen, verheerenden Steinschlag auslösen. Es ist für mich so grausam wie für Dich, dies erwarten zu müssen und Dich dabei an so schlimmer Stelle zu sehen. Deine Worte: „wenn ich es nur erleben werde“ -brennen wie Feuer in mir, haben aber zugleich alle Zuversicht gewaltig aufgerufen, sodass ich tausendmal ja, ja ! rufen möchte. Du wirst es erleben, lieber Theo, und es muß auch alles gut für Dich

werden, Du darfst nicht daran zweifeln. Sieh, das Schicksal kann doch Dich, der Du an all diesem Geschehen mit keinem Gedanken mitschuldig bist, nicht mitbüßen lassen. Du bist so ein wahrhaft guter Mensch, und die Welt wird um vieles besser durch einen einzigen wertvollen Menschen - so müssen die Götter Dir Deinen Geist, Leben und Freiheit geben.- Vielleicht lächelst Du über meine Argumente, aber habe ich nicht dennoch recht?

Es hat mich seltsam ergriffen, dass Du von Deinem nächsten „endgültigen Urlaub“ schreibst - o möchte es bald sein! Wie würde ich mich für Dich freuen, und wie würde ich Dich als Sieger (versteh es recht) willkommen heißen! Weißt Du übrigens von dem 7-tägigen „Rhein-Ruhr-Urlaub“, der allen Soldaten aus den so schwer fliegergeschädigten Städten zustehen soll? Vielleicht kannst Du darauf zurückgreifen, wenn es an der Zeit ist? Längst haben sich meine Gedanken daran gewöhnt, Dich im Winter wieder hier zu finden. Hoffentlich ist das nicht allzu voreilig. Vorerst weiß ich nicht einmal, wo ich Dich jetzt suchen kann.

Aus Deinem Brief kann ich nicht sehen, wo und wann Du geschrieben hast, selbst ein Poststempel ist nicht drauf. Ich habe den Eindruck, dass er sehr lange unterwegs war und warte eigentlich schon wieder auf weitere Nachricht von Dir. So gern möchte ich mehr von Deinem jetzigen Leben wissen, von Deiner Arbeit, Deiner ganzen Lage und allem Erleben. Du musst mir wieder öfters schreiben, lieber Theo, wie Du es im vorigen Jahr getan hast. Da bin ich so glücklich gewesen. Niemals kann ich allzu traurig sein, wenn Du mich nicht so lange ohne Lebenszeichen lässt. Dass ich nach dem

Abschied von Dir entsetzlich einsam und unglücklich war, das darf Dich doch nicht so bedrücken. Ich bin erschrocken bei dieser Stelle Deines Briefes, und Du hast mir ein wenig damit weh getan – es liegt so viel Ablehnung darin. Darf ich nicht zuweilen den Trost haben, Dir mein Herz aufzutun? Du hast gewiss inzwischen meine Briefe erhalten, und wenn Du sie richtig verstanden hast, weißt Du auch, dass Du mir unendlich viel Freude gibst. Kannst Du da Unbehagen fühlen in Gedanken an mich? - Um Deiner frohen Seele willen, gib doch Dir keine Schuld, wenn ich um Dich einmal traurig bin! – Nur schreiben musst Du, lieber Theo, eine kleine Antwort geben auf meine Briefe, das brauche ich wirklich. Ich will doch schon um meiner selbst willen Dir keinen Kummer machen – selbst das einzige Mal, da ich es besonders gern getan hätte, ist es mir nicht einmal gelungen. Ich schrieb Dir ja schon darüber. Jetzt wirst Du ja längst Deine Truppe erreicht haben, hat sich auch das alte Paketchen (mit einem Stückchen Seife) vorgefunden? Und ist von den beiden Neuen schon etwas angekommen? Auch kleine Päckchen sind unterwegs, und dies ist mindestens der zehnte Brief seit Deinem Urlaub. Schreibe es mal, lieber Theo, ob Du alles erhalten hast.

Es ist sehr lieb von Dir, dass Du mir rätst, gut für mich zu sorgen - und das muß ich ja schon, um auch ein wenig für Dich sorgen zu können. Zwar vertraue ich leichtfertig auf den Schutzgeist des Hauses, nichts habe ich weggeschafft, im Gegenteil, in einer Hinsicht sorge ich weidlich hinein. Ich bin dabei, meine letzten Gläser (von 104) zu füllen, darunter 3 Stück mit Kalbsbraten.Das ist für besondere Fälle - hoffentlich

bist Du einmal so ein besonderer Fall. In Rysum habe ich noch Stoff und Wolle gekauft, habe 50 Pfund grüne Erbsen zusammengebracht für Suppen und Gemüse – 50Pfund, das ist für die ganze Verwandtschaft und noch für eventuelle Tauschgeschäfte – und außerdem sind mir 30 Pfund herrliches, schneeweißes Weizenmehl zugesagt. Ja, das geht doch an, nicht wahr? Wenn du für Deine Eltern etwas davon haben möchtest, dann schreibst Du es doch?

In den letzten Tagen habe ich in Rysum noch gut gelebt in Milch und Speck und Eiern - und ohne Alarm. Aber ich bin doch froh, wieder zu Hause zu sein, obgleich ich hier nicht gut empfangen wurde. Zunächst war Dein Brief noch nicht da, das war das Schlimmste. Dann hörte ich, dass unser fröhlicher Stroppi nicht mehr lebt.

Am Tag meiner Abreise war er mit Schrot wund geschossen worden, und Stunden später musste meine Schwägerin ihn begraben. Wir trauern sehr um das liebe, treue Hundetier. Ich darf gar nicht daran denken. -

Schließlich kam der Empfang durch die Flieger: Alarm von ½ 12 -1/2 1 , Alarm von 1- ½ 3 und Alarm von ½ 4 - ½ 5. Um ½ 6 begann meine Nachtruhe und um 9 (ich kam zwar erst um 10 an ) mein Dienst im Büro. Nach mehreren solchen Tagen und Nächten ist man ganz krank vor Müdigkeit. Und diese mehrmaligen Störungen gehören jetzt zum Programm. Das sind trübe Aussichten für die längeren Nächte.- Ein Lichtblick schönster Art ist die Ankündigung der Gürzenich-Konzerte, auf die man sich wohl freuen kann. Ich hatte schon gefürchtet, es würde in diesem Jahr nichts daraus werden – allerdings weiß man nicht, was sich noch ereignet. Ich schicke Dir die Notiz mit, sie wird Dich interessieren. Die Planung ist schön, nicht wahr? Ich möchte alles hören. -

Lieber Theo, ich wünsche Dir alles Gute, sei vorsichtig, bleibe gesund und hab allen Erfolg - ich grüße dich herzlichst
Deine Röschen