Annemarie F. an Theo Hoffmann, 12. September 1943
Köln-Deutz, den 12. September 1943
Dein Brief mit der Darstellung der Hölle, in der Du leben musst, hat mich zutiefst erschüttert und mich mit banger Sorge um den Ausgang dieses grausigen Ringens für Dich erfüllt. Furchtbares hast Du durchgemacht und vielleicht noch Schlimmeres steht dir bevor, doch ein Trost bleibt dem Menschen in der dunkelsten Nacht: der unbedingt darauf folgende Tag, der ihn mit seinem Licht entschädigt für die ausgestandenen Schrecken. Wir wollen also hoffen, immer wieder hoffen, dass das Opfer der Front nicht sinnlos war
und uns bald eine bessere Zukunft beschieden ist. Kann überhaupt das Opfer des Einzelnen sinnlos sein, der da sein Leben hingibt im Glauben an die gute Sache? Mögen die Verantwortlichen, die den Krieg entfesselt haben, die Last der Schuld tragen, der Kämpfer stirbt nach wie vor als Held, würdig der Liebe und Verehrung seines Volkes. -
Unter dem Eindruck des Schlachtgeschehens werden die Menschen umgeschmiedet und im gemeinsamen Erleben des Todes und Schreckens zusammengeschweisst zu einer Kameradschaft, der die gesamte Parteidiktatur nichts anhaben kann, die im Gegenteil stark genug ist, diesen Alpdruck vom deutschen Volk zu verdrängen und durch eine sinnvolle Ordnung zu ersetzen. -
Ich weiss nicht, ob ich darin recht habe, ich denke mir das so in meinem eben der Matura entschlüpften esprit. Einen Sieg und die sich daraus ergebende Vergeltung der Russen kann ich mir nicht grausig genug vorstellen, und
Dein Brief hat mir eigentlich bewiesen, dass ich da richtig sehe. –
Raisonnable und aimable soll ich schreiben... habe ich das bisher getan ...nun, ich will eben noch einmal kurz diesen arroganten ersten Brief streifen; denn für seine Entstehung habe ich auch eine Erklärung bereit. Sieh, zur Zeit, als ich Dich in Neuenahr traf, war ich in rolandseck zum niedrigsten Dienstmädchen herabgesunken und wurde auch allgemein so behandelt. Die Überlast an Arbeit liess mich nicht dazu kommen, mich zu pflegen
und meine Sachen in Ordnung zu bringen und auch die Kameradinnen trugen durch Ton und Benehmen dazu bei, mich allmählich auf das Gefühl des Heruntergekommenseins kommen zu lassen. Ich habe alles getan, um guten Kontakt mit ihnen zu bekommen, doch gerade, wenn der Körper unausgesetzt in Anspruch genommen ist, verlangt der Geist nach Betätigung, wie er es gewohnt war und es war ein Ding der Unmöglichkeit, sich mit den Mädchen mal was ernst zu unterhalten. Da mitten in diesem geistigen Chaos führte dich der Zufall auf die Strasse von Neuenahr. Nach langer Zeit konnte ich wieder
einmal Französisch sprechen. Für eine kurzen Augenblick tauchte noch einmal meine alte Welt vor mir auf und gerade, als ich mich schrankenlos darüber freuen wollte, dachte ich an meinen jetzigen Zustand. Zerzaustes Haar, Hände wie ein Ukrainermädchen mit einem schmutzigen Verband am Finger, Putzdress und „Müllemer Böötchen“ und die Kluft, die sich da auftat, füllte mich auf mit Verbitterung. Ich war so eingesunken in diese Verhältnisse, das ich gar nicht mehr auf ein Herauskommen hoffte. Und so entstand dann dieser Brief und da sonst Arroganz für mich ein unbekannter Begriff war, glaubte ich, sie sei hier am Platze, und nun tut es mir leid. –
Inzwischen bin ich im Elternhaus wieder aufgelebt. „Vier Wochen arbeitsunfähig“ hat der Med.Rat. Dr. Klein geschrieben. Die sind jetzt zuende, und ich hoffe, dass der Studentenführer bald eine andere Stelle für mich gefunden hat. Bis dahin spiele ich hier Hausfrau, da meine Mutter krank und schwach ist.
Dies ist keine leichte Rolle und besonders erschwert durch das viele Anstehen von Geschäften jeglicher Art, doch was sind diese kleinen Geduldsproben gegen Eure Opfer. Nebenbei bleibt mir immer noch Zeit ein wenig Musik zu spielen und in die Oper zu gehen, was ich allerdings mit einem schlechten Gewissen tue, wenn ich an Euer Elend denke. Aber die Musik ist eine göttliche Quelle, die alle Leiden des Krieges verschwinden lässt in dem Moment, wo sie einen in ihren Bann zieht. Hoffentlich hast auch Du ein wenig Muße, Dich daran zu erfreuen. Hoffen wir, das dieses grauenhafte Gemetzel in Front und Heimat bald, bald ein Ende hat und alle wieder freie, vernünftig denkende Menschen werden. –
Bis jetzt habe ich raisonnable (vernünftig) geschrieben, das aimable (liebenswert) lässt auf sich warten, ich glaube
fast, es macht mir Schwierigkeiten – Ich habe noch zu wenig Erfahrung oder besser ausgedrückt, zu wenig Praxis bei diesem Thema. Du bist da sicher gelehrter und kannst meiner Unwissenheit abhelfen. Zum Beweis dafür, dass ich alle Frechheiten und Arroganz zum Teufel geschickt habe, habe ich Dir einige Tröstungen von 100 Gramm (Anmerkung: Päckchen), eigentlich nichts, geschickt; aber ich hoffe, sie machen Dir ein wenig Freude in Deiner aktuellen schlimmen Lage. Zum Schluss habe ich noch eine kleine Bitte, hast Du vielleicht ein Foto von Dir für mich. Ich möchte sehr gern eines haben.
Ich muss diese kleine Unterhaltung beenden. In der Hoffnung Dich bald heil und gesund wiederzusehen sende ich Dir viele herzliche Grüsse
Deine Annemarie