Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 1. Oktober 1943

1.10.

Lieber Theo,

ist es nicht schön, dass das erste Gürzenichkonzert mit dem „Schicksalslied“ beginnt? Heute habe ich mir die Karte besorgt, sie ist mir überaus wichtig. Wie wird diese Musik sein?! Ich bin voller Erwartung und meine, sie müsste das Schicksalslied zu einem göttlichen Gesang machen. Als ich es noch nicht wusste, habe ich schon einmal gedacht: zu diesem Gedicht hätte Brahms eine Musik machen müssen - und nun werde ich es wirklich hören.

Du wirst mich ein wenig beneiden, aber sei nicht betrübt, lieber Theo - ich wäre auch glücklich, wenn Du dabei sein könntest, oder wenn ich wenigstens wüsste, dass es Dir gut geht.-

Auch im Radio ist in diesen Tagen viel seltene, schöne Musik, und ich muss sagen, immer mehr wird Schumann mir fast so lieb wie Brahms. Die Sinfonie vorgestern abend, ich glaube es war die 4. , schien mir so wundervoll, dass ich hätte weinen können, als die Übertragung wegen Luftgefahr abbrach. Was wäre die Welt ohne Musik! Durch sie habe ich mir in dieser Woche auch mein Wellblechbüro erträglicher gemacht, indem ich mir den vom Habsburgerring geretteten ‘Gemeinschaftsempfänger’ aufstellen ließ. Es ist mindestens eine Stunde am Tage schöne Musik, und so ist es längst nicht mehr so trostlos draußen.

Denke Dir einen mit halb verdorbenen Möbeln angefüllten Raum mit blinden Fenstern, hässlichen Wänden, maschinenöl-ver-

schmierter Tür - jeder freie Platz bedeckt mit Akten und wüsten Papieren, und über allem eine nicht zu vertreibende Schicht von Dreck - Staub kann man das schon nicht mehr nennen. Einzig meine Ecke ist ein wenig ordentlich, jeden Morgen fege ich sie zuerst wieder sauber, und kann dann anschließend selbst in die ‘Waschkaue’ gehen. Nah an meinem Platz steht der Ofen, und wenn er in diesen kühl-windigen Tagen geheizt wird, dann befindet sich die obere Hälfte meines Körpers in tropischer Temperatur, während sich bis zu einem halben Meter über dem Boden die Kälte hartnäckig behauptet. Zuweilen sind wir auch von Regenschauern wie eingekerkert, da der Hof gleich zu einem See wird, der uns nicht von einem Bau zum anderen kommen lässt. -

Das alles soll keine Klage sein, lieber Theo, was ist das schon gegen Dein Erdloch - ich will Dir damit nur erzählen, wie es so zugeht, viele Firmen hausen noch weit schlimmer. Unsere ‘Herren’ verschwinden, sobald sich ein Vorwand bietet. Die Straßenbahnverbindung ist jetzt, abgesehen von der steten Überfülle, sehr gut. Die [Straßenbahnlinie] K fährt neuerdings geradewegs bis zum Neumarkt. In dem Gedränge hat man zuweilen den Eindruck, als ob die Ausländer sich an unseren Widerwärtigkeiten heimlich freuen. Gestern kam unser Bau-Ingenieur von einer Reise durch Luxemburg, Belgien und Holland zurück; er erzählte einige Einzelheiten, und man ist erschüttert von dem Hass, der überall gegen die Deutschen herrscht. Das tut irgendwie

weh - es mag übertrieben klingen, aber ich liebe dieses Volk, jetzt, da es so tief verstrickt ist, mehr als je. Ich frage mich, ob dieser allgemeine Hass der Beweis ist für unsere Schuld als Störenfriede, oder ist er wirklich die Auflehnung des Minderen gegen das Wertvolle - wie man so gern sagt? –

Ich schicke Dir einen Aufsatz aus der Zeitung mit, der mich rein gefühlsmäßig zugleich anzieht und abstößt. Zu gerne würde ich hören, was Du dazu sagst - ich muß daraufhin den Faust einmal aufmerksam lesen. Wie wunderbar schön wäre es, wenn ich das mit Dir zusammen tun könnte!

Ach lieber Theo, hoffentlich kommt bald ein Brief von Dir. Zwei Wochen sind schon vergangen, seit ich eine Nachricht von Dir erhielt. Das Warten ist furchtbar schwer, da wachsen die grässlichsten Befürchtungen ins Unendliche. Aber ich will keine einzige wahrhaben - vor einiger Zeit hörte ich einmal eine hochinteressante Predigt, in der es auch hieß, dass der Mensch mit seinem Willen und Gebet unter Umständen auch den Willen Gottes beeinflussen könne. Welche Mystik! Ist das aber nicht wunderbar trostreich? Dennoch sehe ich so oft im Traum Dich bedrängt von Fliegern und Granaten, alles unklar und verworren, nur meine Angst um dich ist ganz deutlich, sodass ich zuweilen, wenn ich darüber aufwache, weinen muss. Sei nicht böse, lieber Theo, ich will das alles gern leiden, wenn Du heil und gesund wiederkommst. Wie kannst Du nur Deine Arbeit tun unter so schrecklichen Umständen? Ich muss zu meiner eigenen Qual-

auch alle Berichte von den fürchterlichen Kämpfen lesen. Zuletzt ist zwar die Gegend, wo Du sein musst, kaum noch genannt. Hoffentlich ist das ein gutes Zeichen. -

In den letzten zwei Wochen habe ich neben kleinen noch drei große Päckchen an dich abgeschickt, je 1000 Gramm getrennt; da ist die Wahrscheinlichkeit, dass Du wenigstens etwas bekommst, doch größer, als wenn ich nur ein großes Paket von 2000 Gramm mache.

Um das Alte, nicht angekommene, ist es schade wegen der unersetzbaren Seife. Und ich glaube, es war auch das Gedichtbändchen von H. Kühnapfel (?) darin, das einige so schön und tief empfundene Gedichte enthält.

2.10. Lieber Theo, heute war Dein Brief da, als ich nach Hause kam, ich bin so glücklich darüber. Wie habe ich aufgeatmet, dass Du ein wenig Ruhe hast, wenn Deine Nachricht im ganzen auch noch keineswegs günstig ist.- „Man braucht nur die Hände hochzuheben“ - das sind Worte, die groß und schwer in meinen Gedanken stehen. Du schriebst auch noch aus der Nähe von Charkow, während schon viel weiter zurückliegende Orte genannt wurden - so bleibt alle Unruhe bestehen. Aber ich hoffe sehnsüchtig, dass Deine Lage sich inzwischen noch weiter gebessert hat. Es ist so lieb von Dir, dass Du mir schon so bald wieder schriebst, lieber Theo, ich habe nur so lange warten müssen, weil Dein voriger Brief ausnahmsweise schnell, und dieser jetzige wieder besonders lange gelaufen ist. Er hat den Poststempel 10.9., und heute erst, am 2.10., ist

er angekommen. Da kannst du Dir ausrechnen, welch unglaubliche Zeit er gebraucht hat. Alles übertrifft aber wohl die Reisezeit dieser kleinen Mozart-Novelle, die ich meines Erinnerns im März an Dich abgeschickt hatte. Ich freue mich aber, dass sie Dir jetzt eine frohe Stunde bereitet. Und ich freue mich an der wunderbaren Beschreibung zu Don Giovanni, die Du mir aufgeschrieben hast, man meint ja fast, die „Töne aus silbernen Posaunen“ zu hören bei diesen Worten - ja, die Aufführung dieser Musik werden wir aber nachholen, nicht wahr? Du siehst, ich habe recht, dass wir noch vieles versäumt haben.-

An das kleine Buch von H. v. Hoffmannsthal erinnere ich mich gut, ich habe bei Dir im Bürgerhospital einmal hineingesehen. Diese Erzählungen gehören ja auch zum Kostbarsten alles Geschriebenen. Ich besitze eine ganze Sammlung und wohl die allerschönsten darunter. Als Schulmädchen habe ich sie zuerst gelesen, und seither sind sie mir immer lieber geworden: die geistvollen Gespräche Ludwig Tiecks, der märchenwunderliche E.T.A. Hoffmann, der lieblich-zarte Eichendorff und so manche andere, nicht zuletzt die bezaubernden Schilderungen Stifters. Seine Menschen könnte ich malen, und ich bin ganz zuhause auf der einsamen Insel des Hagestolzes, bei dem Juden Abdias und in den wunderbaren Bergwäldern des Hochwalds, dem heimeligen Waldhaus am tiefen grünen Waldsee. Man kann wahrhafte Sehnsucht dorthin bekommen. Da sind entzückendste

Waldwunder und seligste Romantik.- Aus dieser schönen Welt werden meine Gedanken nun wieder herausgerissen, das Radio hat seine Sendung abgebrochen, da wird in 10 Minuten Alarm sein. Auch gestern abend hat der Alarm mich nicht weiterschreiben lassen. -

So grüße ich für heute Dich herzlichst lieber Theo. Gott schütze Dich und führe Dich aus allen Gefahren bald in die Heimat zurück.
Deine Röschen

Ich schicke dir noch einen zweiten Zeitungsaufsatz mit [nicht enthalten], der sich in gewissem Sinne an den anderen anschliesst. Aber nach dem letzten Absatz konnte ich nur noch sagen: man sollte es nicht für möglich halten.