Rosalie Schüttler an Freund Theo Hoffmann, 15. November 1943

15.11.43

Lieber Theo,

ich muß Dir, so zwischen Abend und Nacht, noch einen kleinen Gruß schreiben, sonst ist es gar zu trostlos in diesen Tagen - dunkle, regenschwere, an sich schon das Gemüt bedrückende Vorwintertage; Abend für Abend den lästigen Alarm, tagsüber Dienst, unter Menschen von zum Teil unfaßbarer Dummheit - immer noch weit draußen in Braunsfeld, in diesen hässlichen Baracken - und noch immer kein Brief von Dir.

An meinem Arbeitsplatz höre ich viermal täglich auf dem nahen Bahndamm einen Schnellzug vorüberbrausen, da ergreift mich jedesmal Sehnsucht, zu Dir zu fahren, oder ich denke mir aus, dass Du ankommen würdest - dann muß ich hinauslaufen und dem Zug nachsehen, wie er zwischen den Häusern der Stadt verschwindet. Das ist mittags gegen zwei Uhr, und ich sehe dann in die grauen Wolken, die der Wind schwer nach Osten treibt und schicke damit meine Segenswünsche zu Dir herüber. –

Und ich benutze die Gelegenheit, ein wenig in die Luft zu schnuppern, die wohl besser ist, als in der muffigen Baracke, aber doch immer irgendwie voll Rauch oder sonstiger undefinierbarer Gerüche aus den umliegenden Fabriken. Gerüche, die selbst Wind und Regen nicht niederschlagen können. Unser Hof besteht zurzeit aus Riesenpfützen, und man kann kaum nur springenderweise zu einem der anderen ‘Büros’ gelangen. Eines allerdings ist erheiternd; das ist, wenn die Gänse des Lagermeisters majestätisch daherkommen, leuchtend weiß in dem Regengrau, sich um einen großen schmutzigen Regentümpel versammeln und zu baden beginnen. Stell Dir vor, wie sie mit kurzem behagenden Geschnatter ihre langen Hälse in das trübe Wasser tauchen, lang darüber hinziehen und endlich den Kopf hoch aufrecken - wie dann in kohlschwarzen Perlen der Matsch an den weißen

Federn herabläuft, die sie nun eifrig mit dem Schnäbeln putzen, um schließlich völlig verschmiert, aber stolz-zufrieden wieder abzuziehen. Bei diesem Anblick muß man selbst in tiefster Bedrücktheit lachen.

Das Lachen wiederum macht ein wenig freier, und mein Hoffen erhebt sich wieder, bald einen Brief von Dir zu haben. Dann kann ich es kaum erwarten, nach Hause zukommen. Dazwischen liegt aber noch die lange Bahnfahrt, die infolge der jetzt so frühen Dunkelheit, da alles vor dem Alarm nach Hause will, immer mehr zu einer wahren Tortur wird. Es fahren weniger Bahnen als sonst und doch wohnen ja jetzt all die aus der Stadt übrig gebliebenen Menschen auch noch draußen in den Vororten. Die Wagen sind so überfüllt, dass man oft nur auf einem Bein in unmöglicher Haltung stehen und sich nicht rühren kann. Da ist es ein wahres Glück, wenn man nicht zwischen allzu unangenehme Menschen geraten ist.

An jeder Haltestelle ist endloser Aufenthalt, wenn einer sich herauswinden muß, oder ein anderer sich hineinzwängen will. Welch ein Maß von Gleichmut und Anspruchslosigkeit wird doch heute von den Menschen verlangt. Ich atme immer tief auf, wenn ich hier endlich aussteigen kann. –

Zu Hause habe ich dann eine ganze Weile damit zu tun, meine bittere Enttäuschung zu überwinden, dass wieder kein Gruß von Dir gekommen ist - Schließlich beginne ich aufzuheizen und zu kochen, und jedesmal, wenn ich gerade fertig bin, ‘läutet’ es zum Bunker. Mit einem bedauernden Blick auf meine Kochtöpfe (ruhig essen kann man nun ja doch nicht mehr) ziehe ich dann bei dem nasskalten Wetter Wollsocken, lange Hose, schwere Schuhe und zwei Mäntel an und wandere los mit meiner

Tasche, die mein Hab und Gut an Marken und Geld und meinen kostbarsten Besitz (das sind Deine Briefe) enthält. Ich sehe nicht gerade schlecht aus, aber Du müsstest doch lachen, wenn Du mich in dieser Eskimo-Tracht sehen würdest.

Die macht es mir erst möglich, die Zeit über dem Bunker zu verbringen, in den ich nur notfalls herabsteigen mag. Manchmal dauert es eine halbe Stunde - dann gibt es aber meist einen zweiten Alarm - manchmal auch zwei Stunden, wobei dann hier und da geschossen wird und irgendwo in der Umgebung ein paar Bomben fallen. So wird es 9-10 Uhr, und wenn ich dann mein aufgewärmtes Mahl verzehrt habe, bin ich todmüde von allen Strapazen, zumal ich im Geschäft jetzt den ganzen Tag angestrengt zu arbeiten habe, da schon seit Wochen eine Kollegin krank ist, deren Arbeit ich zum größten Teil übernehmen muss. –

Das ist so mein Tagesablauf in dieser Woche. Da bleibt nicht einmal Zeit übrig zu anderer Arbeit, dem heute immer notwendiger werdenden Stopfen und Nähen. Selbst mein Vater kann nur noch schwer an neue Sachen kommen, und nur auf Fliegerschaden-Berechtigungsschein. Damit wird natürlich auch gehandelt. Ein solcher Schein kostet 8,- bis 12,- Mark, wozu dann noch der Strumpfpreis mit etwa 5,-Mark hinzukommt. Toll, nicht wahr? Mit größeren Dingen ist es natürlich noch schlimmer.-

Kürzlich habe ich mir aus Fallschirmen, wie sie bei den Wetterballons gebraucht werden, ein verrücktes Nachthemd genäht. Es sieht aus, wie ein hauchdünnes, glockenweites Ballkleid - Du müsstest mich einmal darin sehen und einen schönen, schwingenden Walzer mit mir tanzen.. ach, Du darfst ruhig lächeln über meine Träumerei.

Ich denke an die schönen Sommertage, da Du hier warst. Wie waren sie doch bei allem Schrecken und Chaos leuchtend schön und glücklich in uns selbst. Immer, wenn ich daran denke, wünsche ich mir, Dir ebensoviel tiefe Freude gegeben zu haben, wie Du sie mir geschenkt hast. –

Am letzten Sonntag war ich in der „Zauberflöte“ - diese entzückenden, schmeichelnden Arien und Duette - bei Paminas jauchzendem: „Ich möchte ihn sehen - ich möchte ihn sehen“, sind mir aber die Tränen übers Gesicht gelaufen. Ach lieber Theo, wenn es Dir nur gut geht, wenn Du nur nicht allzu Schweres erdulden musst!

Lebwohl – Gott behüte dich

Tag und Nacht!
Deine Röschen