Annemarie F. an Theo Hoffmann, 2. Januar 1944

Goslar, den 2. Januar 1944

Lieber Theo!

Nun bin ich an der Reihe mich wegen schlechten Papiers und Bleistift zu entschuldigen, doch das fünfte Kriegsjahr will es nicht anders. Man muss diesen hässlichen grauen Fetzen schon als glückliche Eroberung ansehen.—

Dein lieber Brief erreichte mich am 29.12. kurz vor meiner Abreise nach Goslar. Ich bändigte meine Ungeduld und öffnete ihn erst im Zug, und die sonst so langweilige Reise wurde auf einmal interessant, d.h. für mich, der Blinde erstaunte sich über meine Schweigsamkeit.---

Am meisten freut es mich, dass Du der furchtbarsten Gefahr entronnen bist. Es ist immerhin ein Fortschritt, wenn auch Dein neuer Wirkungskreis nicht 100prozentig sicher ist... und dann will ich Dir dankbar sein für ärztliche Hilfe bei etwaigen Rückfällen, denn ich glaube, ich habe das nötig. Ich bin nun zum ersten Male aus der ziemlich engen Atmosphäre meines Elternhauses herausgekommen, ich lerne so viele neue Ansichten, Meinungen, Weltanschauungen kennen, die mich umschließen wie ein Irrgarten. Ich weiß nicht mehr ein noch aus. –

Sieh, meine Mutter ist fanatische Katholikin; sie hat meinen Bruder und mich

sehr streng erzogen, alles, was uns freute, war sündhaft oder unpassend, als ich mal mit meinen Freundinnen eine Fahrt ins Bergische machte, hieß es, ich sei vergnügungssüchtig. Ich durfte kein Tanzkränzchen mitmachen und keine Modeblätter lesen, ins Kinogehen gehörte zu den Sünden wider den heiligen Geist, und wenn Abiturienten meines Vaters auf Urlaub bei uns einen Besuch machten, wurde ich schleunigst auf mein Zimmer geschickt. Dreimal in der Woche wurden wir in die verschiedensten religiösen Versammlungen geschickt, die immer wieder betonten, dass alles schlecht und böse ist, dass man sich nicht genug in acht nehmen kann, um nicht unterzugehen in dem Sumpf der Welt. Du kannst Dir nun denken, dass das immer und immer wieder Eingehämmerte haften bleibt, auch wenn es einem widerstrebt, wenn man es zu vergessen sucht, eine dumpfe Angst vor einer endgültigen Trennung von dieser Gedankenwelt bleibt bestehen, weil dies auch eine geistige Trennung vom Elternhaus bedeuten würde. In einem jedoch waren wir uns alle einig ...Du weißt worin, und ich finde es sehr merkwürdig, dass einst mein Vater die gleichen Visionen hatte wie Du – lange bevor irgendjemand daran dachte, als alle noch von einem ewigen Frieden aller Völker faselten. –

Nun komme ich plötzlich aus diesem engen Käfig hinaus und soll erproben, ob die Theorien richtig sind. Mein erster Schritt war schon ein starkes Stück. In dunkler Nacht, in einer fremden Stadt, gehe ich mit einem fremden Mann, der dazu noch Offizier und...Arzt ist (Ärzte sind ja meistens verkörperte Beelzebuben, die umherstreifen, um die Seelen zu

verderben) in ein fremdes Hotel, sitze mit ihm in einem Zimmer, auf einem Sofa und befinde mich in einem schrecklichen Widerstreit der Gefühle; (aber das ist schwer zu beschreiben).

Du hast sehr richtig taxiert: Resi erfahren und vielleicht klug, ich unerfahren und vielleicht dumm (d.h. in der Praxis). Mit einem Mal stiegen vor mir all die unheilvollen Mienen der vortragenden und dozierenden Kapläne und Pfarrer auf, blickten mich furchtbar drohend an und ließen ihre wirkungsvollsten Zitate ertönen. Ich dachte an meine Mutter, die wohl einen Nervenschlag bekäme, wenn sie wüsste...und außerdem war mir alles noch zu neu „pauvre jeune fille etudiée“ denkst Du jetzt vielleicht nicht zu Unrecht. Vielleicht ist es wirklich angenehmer zu sein wie Resi, die heute bei der Waffen SS und morgen bei den Fliegern ihr Vergnügen findet und dadurch nachher klug und erfahren scheint. (Übrigens wollte sie weglaufen als Du Deinen Stiefelknecht holen gingst und lud die etwaige Verantwortung auf mich) Nun habe ich hier erfahren wie die Männer nachher über solche Mädchen denken. Erst amüsieren sie sich damit, wie mit einem hübschen Spielzeug, deren man bald überdrüssig wird, dann werfen sie es weg, lesen Schopenhauer und sprechen hässliche Zitate über das „kurzbeinige, breithüftige Wesen, das nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte Intellekt des Mannes als das ‚schöne Geschlecht’ bezeichnen konnte“. Solche Zitate muss ich mir täglich von einem 30jährigen Ex-Casanova gefallen lassen. Kannst Du mir vielleicht Deine Meinung hierzu verraten, und mich so aus einer qualvollen Ungewissheit ziehen. (Oder denkst Du etwa im Stillen auch so?) Ich kann aber trotz allem mir immer sagen, dass das Erlebnis in Neuenahr zum erstenmal mein Inneres durcheinandergewühlt hat, und das von etlichen Klerikern

aufgebaute Gebäude in beträchtliches Wanken gebracht hat. Außerdem klingen les sons melodieuse de la langue francaise wie ferne Melodien noch heute in mir, sind selbst, wenn Du, verärgert über meine Sottise nicht mehr geschrieben hättest, ich hätte dieses Erstmalige, Neuartige nie vergessen. Je crois que l’amour en francais doit etre tres beau et quand tu écris „ma chère petite Annie », c’est comme une caresse. D’ailleurs il te faut m’instruire sur quelques erreurs causeés par une éducation trop étroite. Der Unterschied zwischen meinem Elternhaus ist eben zu groß, um schnell und sicher eine Brücke zu schlagen... zu der anderen Welt. –

Außerdem fürchtete ich auch vor Dir unwissend und ahnungslos zu erscheinen, der Blinde erklärt es mir jeden Tag, weil ich mich noch nicht mit Schopenhauer, Nietzsche, Leibniz und Aristoteles beschäftigt habe, weil ich Schlegel und Kirkegaard nur dem Namen nach kenne und über Frank Thiess nie eine Kritik gelesen habe.

Hélàs, je me suis occupée de la litérature francaise, j’aime Musset, Lamartine, Hugo et les symbolistes et j’ai fait la connaissance fatales des femmes savantes de Molière « Armande, Philaminte et Bélise ». Soll nun die Frau so sein wie Herr Ilse, mein Tyrann , sie will oder soll sie sein wie Henriette oder so wie die Kapläne und Kindheit-Jesu Hefte sie sich denken. (Das nationalsozialistische Weib lass ich außer Frage, wenn ich Übelkeit markieren will, denke ich daran.)

Ich würde mich sehr freuen, wenn Du mir ein Bild von Dir schicktest. Ich werde mich bemühen, ein

Gleiches zu tun. Auch den Renoir sollst Du baldigst erhalten. Ich muss ihn erst aus Köln schicken lassen, da man hier dergleichen nicht kennt. –

Weihnachten verbrachte ich sehr nett bei meiner Quartiersfamilie, die eine süßen kleine Buben haben. Meine Gesundheit geht wieder so là là, ich habe nur immer arge Kopfschmerzen und dick angeschwollne Lymphknoten (was nicht gerade zur Schönheit beiträgt) Die Beine sind wie aus Gummi und das ganze Gestell ziemlich rasch ermüdet. Am 30. um 4 Uhr musste ich sogar eine Höllenfahrt nach Berlin mitmachen. Ein- und Aussteigen durchs Fenster, U-Bahn Unglück, Marsch durch den eiskalten, feuchten Tunnel, im Ganzen 30 Stunden auf der Bahn, die Folge davon war, dass ich bis 31. 8 Uhr nichts mehr von mir wusste.

Silvester und Neujahr war grauenhaft. Zu diesen Norddeutschen Kantianern finde ich keinen Kontakt.

Au revoir mon grand ami il me faut finir. Le service m’appelle. Faites-moi bientôt le grand plaisir d’une lettre contenant votre foto et beaucoup de pensées raisonnables et quelques mots irraisonnables…et si vous pensez que j’en suis capables je vous donne un baiser et je dirai un me voilà je t’..

Annemarie