Horst Schmitt an seinen Vater, 19. Mai 1942

Nagold, 19.V.42

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Lieber Vater!

Ich bin ganz froh zu hören, dass Du in Bonn und wieder gesund bist. Da lässt es sich viel besser arbeiten. Du fragst mich in Deiner Karte, was ich hier so mache. Ich will Dir das erzählen.

Mein Lager ist 60 Jungen stark, also 2 Jungzüge. Diese Jungen kommen alle aus Bochum, und die Väter der allermeisten Jungen, etwa 8-10 sind ausgenommen, sind als Bergarbeiter angestellt. So habe ich nun jetzt Gelegenheit, das Leben im „Kohlenpütt“ kennen zu lernen. Nun wird so allerhand darüber erzählt, und auch ich selbst hatte mir ganz andere Vorstellungen von dem Leben der Menschen im Kohlenpott gemacht. Aber ich wurde angenehm, ja sehr angenehm enttäuscht. Wie gesagt, habe ich alles Bergarbeiterkinder, und ich dachte zuerst, als ich dies in Bochum an der Banndienststelle erfuhr, lauter dumme, vergrämte und blass aussehende Kinder anzutreffen. Als ich nun mit Jochen Holzhäuser zum Bahnhof kam, - ich hatte vorher bei Holzhäusers zu Mittag und Kaffee gespeist und getrunken -, sah ich gut aussehende, vor Glück strahlende Kinder mit ihren Eltern, im ganzen 750 Jungen und Mädel, kein Kind mit nicht wenigstens 2 Personen Begleitung. Da musste ich nun meine 60 heraussuchen. Ich habe nun einen Unterführer bekommen und dem hatte ich diese Angelegenheit

2.) übertragen. So konnte ich mich also noch eine Zeitlang mit Jochen unterhalten, um 6 Uhr abends waren die Kinder am Bahnhof und um 8 Uhr erst fuhr der Zug ab. Ich sah mir nun den Betrieb an. Dieser war ganz anders als in Bocholt. Damals war bei uns Organisation vorhanden. Hier aber keine Spur. Alles lief durcheinander, und die Eltern wollten sich nicht für einige Minuten, bis die Kontrolle vorbei war, bei der die Anwesenheit aller Jungen festgestellt wurde, von ihren Jungen trennen. Das Durcheinander kannst Du Dir vorstellen. Aber schliesslich waren auch diese 2 Stunden vorbei, für mich sehr interessant; denn man konnte wieder allerhand Studien in puncto Menschenkenntnis machen. Als der Zug abfuhr, habe ich, wie in Bocholt, vergebens nach Tränen in den Augen der Eltern oder Kinder ausgeschaut. Langsam fuhr der Zug aus dem Hbf. Bochum heraus. Und ging es genau wie damals. Die Jungen blieben in ihren Abteilen und konnten nicht einschlafen. Nun konnte ich mir in aller Ruhe die Jungen ansehen, und ich kann zu meiner grössten Freude feststellen, dass ich mich nicht geirrt habe, nämlich in der Charakterzeichnung der einzelnen Jungen. Ich habe mich dabei in die

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einzelnen Abteile gesetzt und mich mit Jungen unterhalten. Dabei fielen mir natürlich sofort die Vorlauten, die Ruhigen und auch die mit schlechten Charakteren auf. Ich stellte aber sofort fest, dass von der letzten Sorte sehr wenige dabei waren, und dass diese bei einiger Erziehung sich schon bessern würden, was nebenbei gesagt, auch schon geschehen ist. Wenn man nun das Aussehen der Jungen sah, so kann man, und das sage auch ich, behaupten, alles Gerede über katastrophes Kinderleben im Ruhrgebiet ist Quatsch. Ich erkundigte nun mich hintenherum, wer von den Jungen schon mal mit der Bahn gefahren wären. Da stellte ich nun fest, dass den allermeisten das Bahnfahren nichts Neues mehr war. Und womit waren sie gefahren. Mit der KdF. Ich erkundigte mich nun weiter, ohne dass die Jungen das merkten, nach dem Wirken der Partei im Ruhrgebiet und stellte fest, dass sie hier ganz auf der Höhe ist. Partei half hier, Partei machte dort etwas. Ich erzähle hier nur, was ich von den Jungen gehört habe. Das Übertrieben habe ich allerdings weg gelassen. Im Vergleich mit dem Ruhrgebiet ist die Partei in Bocholt ganz erbärmlich. – Wir fuhren die ganze Nacht hindurch. Es war ganz dunkel draussen, sodass die Jungen nichts sehen konnten. Das war schade. Morgens ½ 11 Uhr kamen wir in Eutingen an. Hier hatten wir 3 Stunden Aufenthalt. Wir, d. h. die Jungen und ich verliessen den Bahn-

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und haben unsern ersten Marsch gemacht. Die Sonne brannte ganz heiss, so wie in Bocholt im Hochsommer. Die Jungen waren ganz erschöpft und trotzdem marschierten sie ganz mustergültig. Um ½ 2 Uhr fuhren wir weiter bis Nagold. Hier wurden wir vom Ortsgruppenleiter, vom Lagerleiter, Herrn Noelle, ein anständiger Lehrer, der seine Sache gut versteht, und vom DJ empfangen, welches die Koffer zum Heim brachte. Unser Heim siehst Du nun auf der Ansichtkarte. Es ist ein ehemaliges Methodistenheim. Für die Gesundheit der Jungen ist hier alles getan: gutes Essen, Liegehalle, Waldsportplatz, den wir jetzt oft besuchen, Badeanstalt usw. Die Umgebung ist auch sehr schön. Das Städtchen ist rund umgeben von bewaldeten Bergen. Auch eine Burg ist da: Ruine Hohennagold. Diese benützen wir für unseren Geländedienst. Das Heimpersonal weist grosse Unterschiede auf. Als Heimleiterin fungierte eine ziemlich energische, ja dem Lagerleiter und mir zu energische ältere Dame. Die Köchin ist nett und versteht, wie gesagt, ihr Geschäft. Ferner sind im Hause noch einige Mädels beschäftigt, eine mit einem Augenfahrrad (auf Hochdeutsch: Brille) eine mit krummen Beinen usw. Du weist bescheid, nicht wahr? So leben wir hier in einer schönen Gegend. Der ganze Apparat hat sich so langsam eingespielt und das Leben für unser einer wird gemütlich. Es bleibt sogar Zeit über, um an die Schularbeiten zu

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denken. Nun möchtest Du gerne wissen, was wir den ganzen Tag hier machen. Hier ist unser Tagesplan:

7.00 Uhr Wecken           15.30 Kaffee
7.45 Uhr Stubenabn.       16.00 Dienst
7.50 Uhr Flaggenap.       18.30 Abendessen
8.00 Uhr Frühstück         19.00 Dienst
8.45 Uhr Unterricht         20.00 Fertigm. zur Stubenabn.
10.45 Uhr II. Frühstück   20.40 Stubenabn.
11.00 Unterricht               21.00 Zapfenstreich
12.30 Uhr Mittagessen
13.00 Uhr Bettruhe
14.00 Uhr Schulaufg.

So läuft ein Tag wie der andere und doch gleichen sich nicht zwei. Der Zugf. und ich besorgen das Aufstehen und haben ab 12.30 Uhr das Ruder in der Hand. Das macht viel Spass, nämlich, das Leiter der Jungen, und vor allen Dingen, man sieht den Fortschritt. Wenn wir durchs Dorf marschieren, so öffnen sich Fenster und Türen und die Nagold schauen mit wohlwollendem Lächeln auf die Jungen, die alle 10-11 Jahre alt sind.

Doch nun will ich schliessen. Viele Grüsse an alle Verwandten und besonders an Dich
von Deinem Horst.

Vielleicht kommst Du Pfingsten mal herüber. Unterkunft wirst Du schon in einem Hotel finden. D.O. Verwahre bitte die beigelegten Ansichtskarten.