Horst Schmitt an seine Eltern, 15. Juni 1943
Unterwössen, 15.6.43.
Liebe Eltern!
Jetzt komme ich nun endlich zum Schreiben. Ja, da habe ich ‘ne tolle Woche mitgemacht. Zunächst war ich um 9 Uhr morgens in Münster. Auf der Gebietsführung angekommen fing ein grosses Warten an. Um ¼ nach 11 Uhr kam dann einer von den Herren und holte uns zum .... Arbeiten. Ja zum Arbeiten. Da seid Ihr bestimmt platt. Und zwar „durften wir Möbel transportieren. Ich habe eine Stinkwut gehabt und es den Leuten auf dem Gebiet klar und deutlich gesagt, was man dann auch einsah. Mittags habe ich mein Reisegeld geholt und bis zur Abfahrt des Zuges im schönen Münster spazieren gegangen. Um ½ 7 Uhr abends fuhr der Zug, der bis München durchfuhr, ab. Natürlich waren wir, d. h. 13 HJ-Führer und ich, der ich als Transportführer fungierte, eine Stunde vor der Abfahrt auf dem Bahnsteig, um einen tadellosen Platz zu bekommen, den wir auch erhielten. Von diesen
13 HJ-Führern waren 11 Lehrlinge und 2 Pennäler, alle vom Jahrgang 1925. Und ich als 26er hatte die Führung. Die beiden Pennäler wussten nicht, dass ich auch „vom Fach“ war, und glaubten sich allerhand rausnehmen zu können gegen über den „blöden“ Arbeitern. Aber ich habe es ihnen recht unzweideutig unter die Nase gehalten, wie lächerlich ich ihr Benehmen halte. Dann ging die Fahrt am Montag abend um 18.30 Uhr in Münster los. Schon 1 Stunde vorher waren wir 14 Jungen im Zuge und hatten uns natürlich die besten Plätze geholt. Unterwegs wurde der Zug immer voller. Über Recklinghausen ging die Fahrt durch das Ruhrgebiet. Hier sah ich zum 1. Male, was zerstörte Stadt heisst. So sind wir zum Beispiel am grössten Dortmunder Werk vorbeigefahren: Hoesch u. Co. ¼ Stunde lang nichts wie Trümmer und Ruinen. Dann gings den Rhein hinauf in stockdunkler Nacht. Schade, dass wir nichts sehen konnten. Ab Heidelberg war wieder alles zu sehen. Es ging über Stuttgart, Ulm und
Augsburg nach München. Hier trafen wir um 11 Uhr ein. Nach einer Stunde hatten wir die Gebietsführung in der Georgenstr. gefunden. Selbst auf der Georgenstr. wusste kein Erwachsener und kein Junge, wo das Gesuchte lag. „Zustände, sage ich Euch, da ist alles dran!“ Die Erklärung besteht darin, dass in München die HJ wieder freiwillig ist, wie vor 1936. Da seid ihr bestimmt erstaunt, wenn ihr das hört: In der Hauptstadt der Bewegung die HJ freiwillig. Ich habe mächtig gestaunt. Als weitaus bester Führer von den 14 Jungen bekam ich das angeblich am schwersten zu führende Lager. Und zwar sind da zur Zeit 91 Jungen und wird sich wahrscheinlich noch auf ca 140 Jg. erhöhen. Dann gibts aber Spass! Die Jungen sind in 2 verschiedenen Häusern untergebracht. Das Ganze ist eine emalige Wirtschaft, echt bayerisch. Ich bin einmal in der Küche gewesen und gehe garnicht mehr hinein. Der Heimleiter ist vollkommen gegen den Nationalsozialismus und erst recht gegen die Erziehung in der KLV,
die ich unbedingt für die dem Staate wertvollste Erziehung haltung. Nun könnt Ihr Euch ja sein Benehmen vorstellen. Bestechung, Heuchelei und Schiebung sind die Mittel mit dem dieser Mensch, der dazu bald jeden Tag in die Kirche rennt mit Frau und Kindern, vorgeht. Aber als alter KLV-Hengst weiss ich ja nun solche Leute zu behandeln und die nötigen Stellen in Bewegung zu setzen. So bin ich aus diesem Grunde einige Tage in München geblieben, um mit dem KLV-Inspekteur Drescher guten Kontakt zu bekommen. Ich glaube, dass dieser unbedingt ein korrekter Mann ist. Für unser Lager ist der Bannf. von Traunstein ebenfalls zuständig, übt aber keine Befehlsgewalt aus, sondern fummelt uns mal überall dazwischen. Dieser steckte mit der Heimleitung unter einer Decke. Dementsprechend natürlich sein Benehmen. Ich sage aber aus einem bestimmten Grunde: steckte; denn der Lagerleiter hatte ihm gründlich Bescheid gesagt. Der Lagerleiter ist ein sehr feiner
viel zu gutmütig für diese rohen bayerischen Gesellen, die nicht ein bisschen Anstand in sich haben. Seine Jungen hat er vollkommen in der Gewalt, genau wie ich die Jungen schon vollkommen beherrsche. Der Lagerleiter hat seine Frau und seinen 12-jährigen Jungen hier im Lager. So etwas an Einsatzbereitschaft wie Herr und Frau Hagen, - so heisst nämlich der Lagerleiter, der aus Bochum[?] stammt und dort Schulrektor ist, - sie zeigen, habe ich noch nicht gesehen. Die Kinder gehen ihnen über alles. Wenn auch schon mal etwas kaputt geht, - und wie soll das bei 90 richtigen Jungen nicht mal passieren, - so sind nach aussen hin immer der Anwalt der Jungen, d. h. sie vertreten genau den Standpunkt, auf den ich mich auch immer stelle. Es besteht also ein ganz ideales Verhältnis zwischen dem Lagerleiter und mir wie auch zu den 3 Zugführern, von denen der eine, Harald mit Namen, aus Hamburg und die anderen beiden Walter und Horst aus Bielefeld und Dortmund stammen. Ferner sind noch 2 Lagerleiter hier, von denen der eine
von der Kirche nicht bestochen werden kann und zu den Jungen hält, der andere jedoch immer in der Küche zu finden ist und augenblicklich versetzt ist. Hoffentlich bleibt er weg. So ein Scheusal können wir nicht gebrauchen, wo wir alle an einem Stricke ziehen. Natürlich sind die Bayern in Dorfe auch gegen das ganze Lager. Der erzählt uns immer so nette Geschichten ein Parteigenosse, der öfter ins Lager kommt. Was da nicht für Gerüchte herumschwirren, das ist einfach haarstreubend. Aber das kann uns ja nicht im mindesten erschüttern.
Am nächsten Sonntag marschiert unser Lager in Traunstein am Gauleiter Giesler vorbei anlässlich eines Kreistages. Wir sind deshalb schwer am exerzieren und das Marschieren in 6er Reihen klappt tadellos. Das wird eine grosse Sache.
Nun will ich schliessen. Denkt an die Abmeldebescheinigung, die ihr an die Adresse H. S. KLV-Lager Gasthof Ammer in Unterwössen, Oberbayern, hinschickt.
Es grüsst Euch vielmals Euer Horst.
Viele Grüsse an H. Belting, Looks u. Kraatz.