Andreas van Kann an Annliese Hastenplug, 9. Juli 1943
Nordfrankreich, 9. Juli 43.
Meine liebe, liebe Annelie!
Es ist noch früh am Tag, gerade ½ 7 Uhr. die Rekruten haben Unterricht und da kann ich Dir wunderschön einen Brief schreiben. Nun habe ich gestern doch einen Brief von Dir bekommen, allerdings einen uralten vom 21. Juni. Wo der sich herumgetrieben hat, möchte ich mal wissen.
Du schreibst mir über meinen ersten Brief, den Du von mir hier bekommen hast. Ich weiß, daß Du Dich nach meinen Briefen sehnst. Glaub’ mir, es ist genau so bei mir. Gewiß freue ich mich über alle Post, die ich bekomme, doch wenn von Dir nichts dabei ist, bin ich immer ganz traurig. Das ist ja eigentlich unbegründet - denn
Du schreibst wirklich sehr oft. Und wenn wirklich mal 2 - 3 Tage nichts von Dir kommt, dann muß es an der Post liegen. -
Unser Urlaub liegt wieder in weiter Ferne; jetzt kommen mir wieder so stark die Erinnerungen. Es waren wunderschöne Tage. Und wenn wir auch oft im Kino waren! Und war es nicht auch schön? Weißt Du noch, wie mir mitten auf dem Neumarkt, in strömenden Regen, die Schuhe platzten? Und alle Hauptfilme waren schon zu Gange - da sind wir im Café Delft gelandet. Und mittags waren wir dann im Boccacio: „Späte Liebe“. Dieser Film ist mir am Stärksten in der Erinnerung geblieben, er war ja auch sehr gut. - -
Ich habe mich nun wieder mit mir zurecht gefunden. Die in schmerzlicher Ungewißheit verlebten Tage sind noch lange in mir nachgeklungen. So etwas kann man nicht so schnell überwinden. Jetzt bin ich wieder ganz bei-
einander, ein Glück. Vielleicht habe ich Dir auch ganz komische Briefe geschrieben - ich weiß nicht - sei mir bitte deswegen nicht böse. Ich war so fertig, daß ein klares denken schier unmöglich war. - Wenn es doch jetzt wenigstens nicht mehr so schlimm werden wollte. Es ist ja so grausig alles. Wir hier leben in tiefem Frieden, fast merkt man kaum, das Krieg ist. Nachts, wenn der Tommy über uns hinweg fliegt - zu Euch hin - dann haben wir eine furchtbare Wut, daß wir nicht helfen können. Wir sind einfach machtlos. Das ist schlimm. -
Im Osten scheint ja der Krieg auch wieder begonnen zu haben. Vielleicht fällt in diesem Jahre noch eine Entscheidung. Du, stell Dir das einmal vor! Friede! Weißt Du überhaupt noch, was Friede ist? Denk’ mal an den Ring - Ufa, Cafe Wien und
all das viele Licht vom Opernhaus bis zum Capitol. Wenn ich an Frieden denke, dann kommt mir immer dieses Bild in den Sinn - Licht, Farbenfreude und frohes arbeitendes Großstadtleben. Oder aber ich denke an die wohltuende Ruhe eines Sonntagsmorgens. Lauter frohe Menschen und das Glockenspiel über der Stadt - ein Bild irdischen Friedens - ein Bild menschlichen Wohlstandes.
So bald wird das alles nicht wiederkommen. Unsere Stadt ist ein Trümmerhaufen - eine furchtbare Anklage gegen die Schuldigen an diesem Kriege, der zu einem Massenmorden geworden ist. -
Muß man da nicht an der leisesten Gottvorstellung zweifeln? Ich habe niemals Gott geleugnet - ich habe ihn mir als Vatergott vorgestellt, der der Natur ihren Lauf läßt. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß
ein solcher Vatergott dies alles zulassen würde. Es soll doch niemehr eine Sündflut kommen! Was ist das denn anders? - Aber ich schreibe wieder einmal von Dingen, die jeder mit sich selbst ausmachen muß. Auch Du mußt es selbst wissen, Annelie! Aber (ich will ganz ehrlich sein, jetzt, nimm’s bitte nicht krumm!) ich halte nicht viel davon,
das man nur in Not und Gefahr betet. Das ist ein Kompromiß - möchte sagen, das Kompromisse verwerflich und billig sind. - Kennst Du den Spruch, der in meiner Bude hängt: Sei was Du bist; aber was Du bist, habe den Mut, ganz zu sein. Ich glaube schon, daß man in schwerer Not und Elend im Gebet Trost findet - gewiß! So sind wir erzogen worden und, was Generationen als gut befunden haben, sollte man auch nicht verwerfen. Aber dann ganz, und
keine Halbheiten. - Ich kann es nicht! In mir sitzt der Glaube an die eherne Naturgesetzgebung zu tief. Das hat nichts mit der Erziehung oder irgendeiner Beeinflussung zu tun. Ich habe jahrelang um diese Erkenntnis gekämpft. Als Junge besaß ich den Glauben, weil ich die Welt nicht kannte - das Leben war mir damals zu unwirklich - da war ich religiös. So religiös, daß ich Theologe werden wollte. Und als ich die Welt - die Natur und - die Gewißheit um einen liebenden und geliebten Menschen kennen lernte, verblassten allmählich die phantastischen Vorstellungen einer religiösen Lebenshaltung. Plötzlich wurde alles klar und uncompliziert. -
Dann kamst Du - mit Dir habe ich meinen Glauben gefunden - einen Glauben an das Leben. Jetzt hatte plötzlich alles seinen Sinn, die Dinge nahmen Gestalt
an!
So bin ich dann in Deiner Liebe zum Mann geworden, ganz zu Dir geneigt - auf Dein Tun und Lassen abgestellt. Das ist mein Glaube - das Vertrauen zu Dir - zu Deiner Liebe und Treue. -
Laß mich enden davon -
hoffentlich verstehst Du mich recht - im Bezug auf die Religion wollte ich Dich nicht kränken, nur ganz ehrlich sein, weil ich das Dir gegenüber einfach sein muß!
Und ich hab Dich doch so lieb - so grenzenlos lieb . . . .
Dein Adi.