Andreas van Kann an Anneliese Hastenplug, 16. Juli 1944
Thorn, 16.7.44.
Meine liebe Annelie,
nun müßte bald die erste Post von Dir eintrudeln. Ich freue mich schon sehr darauf. Ja, Liebste, kaum bin ich ein paar Tage weg von Dir, dann kann ich es fast schon nicht mehr aushalten vor Sehnsucht! Lach’ mich bitte nicht aus, es ist bestimmt wahr. -
Dieser Tage hatten wir auf der Stube ein sehr interessantes Thema zwischen; ich möchte es nicht versäumen, Dir davon zu schreiben und um Deine entsprechende Äußerung zu bitten.
(Die Kameraden sind teils verheiratet, teils wie ich, und teils wie Alo!) Also das Thema 1b: „Gattentreue“ bzw. Treue des Brautstandes oder Treue Freund-Freundin. Hier prallten
nun die Ansichten ungeheuer aufeinander. Ich stand natürlich mit meiner „sturen Ansicht“ wieder mal allein auf weiter Flur. (Diese Ansicht brauch’ ich wohl nicht weiter zu erläutern, die kennst Du zu genüge und außerdem ist sie mit Deiner eigenen identisch.)
Da war nun der eine, (verheiratet!) der grundsätzlich meiner Meinung war, aber sich wohl ein Hintertürchen offen ließ. Er ging von den menschlichen Schwächen aus. Eine Frau z. B. kann grundsätzlich treu sein und ihren Mann sehr lieben, aber es kommt irgendwie einmal eine schwache Stunde in der sie - vielleicht sogar im Affekt - ganz impulsiv und gedankenlos einen Seitensprung macht. Dies hätte mit Untreue garnichts zu tun; denn die Frau würde sich hinterher sagen: wie schlecht hast Du gehandelt; es würde sie quälen - mit anderen Worten: die Reue beginnt! Die Frau sühnt durch
die Gewissensbisse. - Und die Einstellung des Mannes dazu? Ja, solange er es nicht erfährt ist ja alles klar. Und wenn er es erfährt - und er erfährt es immer früher oder später!? Dann muß er verzeihen können. Das sei ja erst die richtige Liebe, die auch verzeihen könnte. Denn es käme ja auf das Motiv der Tat an! Ein vorsetzlicher Mord z. B. wird juristisch unerhört hart bestraft, während ein im Affekt begangener Mord in vielen Fällen ganz leicht bestraft wird, manchmal sogar einen Freispruch zur Folge hat.
Gegen soviel verstandsmäßig-nüchternes Sehen dieser Dinge konnte ich leider nichts einwenden. Ich habe da nur Ideale. Wenn ich z. B. wüßte, daß Du ... ja - ich könnte einfach nicht mehr so zu Dir stehen wie bisher. Gerade, weil ich unendlich liebe! Na, Du weißt ja - wie ich darüber
denke, wir sind uns wohl gerade darüber vollkommen klar. -
Du solche Unterhaltungen hier bei uns sind sehr interessant. Ich habe aber immer das Gefühl, daß Leute mit solchen und ähnlichen Ansichten damit nur ihre eigene Unzulänglichkeit rechtfertigen wollen und ihr Vorgehen damit decken. Der kann mir soviel von Reue erzählen wie er will - was nutzt eine Reue, wenn 2, 3, 4 u.s.w. „schwache Stunden“ folgen. Das ist genau wie bei der Beichte: Man sündigt, beichtet, bereut; der Fall ist klar - man ist rein und - - sündigt weiter. Solch ein Paradox! Es ist ja ein direkter Witz. - Ein Mensch, der wirklich tief und ursprünglich liebt kann nie untreu sein; das bringt er einfach nicht fertig - weil ja sein ganzes Leben auf den geliebten Menschen abgestimmt ist. Alles erinnert ihn an „seinen“ Menschen:
die Brieftasche, das Zigarettenetui, der Ring, die Uhr, alles - alles ...
Wie kann man da eine „schwache Stunde“ haben? - -
Schreib’ Du mir mal darüber, Annelie!
Heute am Sonntag ist garkein Dienst. Ich habe meine schriftlichen Ausarbeitungen fertig gemacht und nun ist es bald Zeit zum Mittagessen. Ich gehe nicht aus, was soll ich in der Stadt in dieser unheimlichen Menge Soldaten, Menschen und Soldaten. Man kriegt die Hand nicht von der Mütze herunter. Außerdem ist es hier in der Unterkunft so gemütlich, wie nirgendwo in der Stadt. Vor allem habe ich hier meine Ruhe. Im Fähnerichsheim steht uns alles zu Verfügung: Musikinstrumente, Schachspiele, Bücher und ein fabelhafter Plattenspieler mit dollen Platten. Auch essen kann man dort ganz gut mindestens so gut wie draußen.