KAS (Köln)

Gesamtbeurteilung der Klasse OI Ra

Gesamtgutachten über die OI Ra:

Wie alle Oberprimen der letzten Jahre so hat auch diese Oberprima unter den Folgen des Krieges und der Nachkriegszeit in erheblichem Masse gelitten. Bei der Wiedereröffnung der Schulen im Nov. 45 in Köln hatten alle Schülerinnen andere höhere Schulen bezw. Mittelschulen, meistens sogar ausserhalb Kölns, besucht. Nur 3 Schülerinnen kamen Ende 45 zur K.A.S., 6 Schülerinnen 1946, 3 Schülerinnen im Verlaufe des Jahres 1947 und 3 im Jahre 1948. Alle waren 2 Jahre in Prima. Von den 22 Schülerinnen zu Beginn der U I (seitdem ich die Klasse als Ordinarius führte) schrumpfte die Anzahl auf 15 zusammen.

Die meisten hatten in den letzten Kriegsjahren ihre Schulausbildung für längere Zeit unterbrechen müssen; um des Lebensunterhaltes willen waren einige praktisch tätig. Wieder andere konnten an Kursen teilnehmen und durch Privatunterricht ihr Wissen auffrischen und erhalten. Die Vorbildung ist bei den meisten noch lückenhaft. In den Primajahren mussten viele Stoffe der Mittelstufe neu durchgearbeitet werden, um auf ihnen aufbauen zu können. Die meisten des abgegangenen Drittels der Schülerinnen konnte das verlangte Arbeitstempo, das zum Leistungsstand der Oberstufe führen sollte, nicht durchhalten.

Vielfach wurden die Schülerinnen von ihrer Schularbeit abgehalten durch ihren Einsatz in ihrem häuslichen Arbeitskreis, wobei sie die kranke Mutter vertreten und beim Wiederaufbau helfen oder die praktische Arbeit zum Lebensunterhalt der Familie beisteuern mussten. Der Gesundheitszustand einiger Schülerinnen wurde dadurch in besorgniserregender Weise angegriffen. Erst eine Aussprache mit den Eltern brachte Abhilfe.

Die weiten Bahnfahrten (von 1 bis 3 oder sogar 4 Stunden täglich), die Überbeanspruchung daheim und die nervöse Abspannung durch die Nöte der Nachkriegsereignisse waren nachteilig für die Schülerinnen und bewirkten einen Mangel an Konzentrationsfähigkeit infolge Übermüdung.

Trotz dieser zahlreichen negativen Einflüsse kamen die Mädchen gern zur Schule mit dem festen Willen, ihre unterbrochene Schulzeit neu zu beginnen und zu einem Abschluss zu führen. Trotz mancher Rückschläge in den schulischen Leistungen war man meistens in froher Stimmung. Alle Schülerinnen hatten volles Vertrauen zu ihren Lehrern, zeigten sich dankbar und anhänglich. Das zeigte sich besonders auch auf der 8tägigen herrlichen Fahrt an den Mittelrhein, die Schülerinnen und Lehrer wohl nicht in ihrem Leben vergessen werden.

In der Klasse war der kameradschaftliche Zusammenhalt gut und die Mitarbeit im allgemeinen rege, sodass sie zu guten mündlichen Leistungen führte. Ihrer ausserschulischen Tätigkeit nach ist die Klasse nach Interessengruppen aufgespalten, die unter folgenden Stichworten stehen: Oper, Schauspiel, deutsch-englischer Klub, andere Diskussionsgruppen, Volkstanz, Handarbeitszirkel, Wandergruppe.

Für die einzelnen Fachgruppen unterscheidet sich die Begabung der Klasse so, dass 2/3 für die geisteswissenschaftlichen und 1/3 mehr für die naturwissenschaftlichen Fächer begabt sind.

Die knappe Hälfte der Schülerinnen neigt zu praktischer Betätigung, für etwas mehr als die Hälfte könnte ein Universitätsstudium empfohlen werden.


Beurteilung

Sie macht den Eindruck eines ernsten, verantwortungsbewussten und charaktervollen Menschen. Die Schicksalsschläge des Krieges - sie verlor ihren Vater - haben einen grossen Einfluss auf sie gehabt. Durch ihre Selbständigkeit in Lebensfragen fällt sie besonders im Religionsunterricht und im Deutschen auf. Ihre besondere Begabungsrichtung liegt in den deutschkundlichen Fächern, worin sie ein gutes Gedächtnis, schnelle Auffassungsgabe und einen kritischen Verstand besitzt. Negativ liesse sich bei ihr vielleicht von einer Überempfindlichkeit sprechen, die von Zeit zu Zeit sich bemerkbar macht, und von einer gewissen Eigenwilligkeit, die sogar in Rechthaberei ausarten kann.

Im allgemeinen aber ist sie natürlich, offen, liebenswürdig und lebensfroh und kann durch ihren Mutterwitz ihre Mitschülerinnen erheitern und ihren Hang zum Grübeln und zu überstrenger Selbstkritik übertönen. Wie in ihrer körperlichen Struktur, so ist sie auch in den Sprachen etwas schwerfällig und ungewandt. Es hat hier eines eisernen Willens und Fleisses bedurft, um zu der geforderten Leistungshöhe zu gelangen. Durch ihre Betätigung auch in ausserschulischen Gebieten - Jugendbünde, Wanderungen, Theaterbesuche, Club, Volkshochschule - hat sie ihren Bildungskreis nach allen Seiten hin erweitert und hat dadurch ein überraschend selbständiges Urteilsvermögen erlangt. Ohne dass sie es im geringsten darauf anlegt und in ihrer jugendlichen Tapsigkeit, stösst sie in der Klassengemeinschaft schon eher einmal an als die anderen Schülerinnen, gewinnt aber durch ihre herzerquickende Ursprünglichkeit und Gemütswärme die Herzen aller.

Sie ist für ein Hochschulstudium nur bedingt geeignet.

Christa will einen praktischen Beruf ergreifen.

Lebenslauf

Am 20.I.1930 wurde ich als Tochter des Ingenieurs Rudolf G. und seiner Gemahlin Ellen, geb. W. geboren.

Im April 1936 kam ich in die katholische Volksschule Köln-Ostheim. Diese besuchte ich 2 ½ Jahre.

Im Herbst 1938 wechselte mein Vater seine Stelle, und wir zogen nach Frechen bei Köln. Dort besuchte ich ab

November 1938 die evangelische Volksschule.

Ostern 1939 bei Errichtung der Gemeinschaftsschulen kam ich in die Marienschule Frechen.

Ostern 1940 wurde ich in der städtischen Oberschule für Mädchen Köln-Weyerthal in die Sexta aufgenommen.

Ostern 1944 wurde ich konfirmiert.

Bis zum 27. September 44 besuchte ich diese Schule, dann durfte ich wegen der ständig zunehmenden Tagesangriffe und der schlechten Kellerverhältnisse die Schule nicht mehr besuchen.

Da ich bereits 14 Jahre war, wurde ich

im November 44 zum Kriegseinsatz in einer NSV-Küche herangezogen, den ich bis zum

27. Februar 45 leistete. - Mein Vater starb

am 23.I.1945 eine Stunde nach seiner Verwundung durch eine Jabobombe.

Am 28.II.1945 flüchteten meine Mutter und ich kurz vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen ins Bergische.

Am 19.V.1945 Rückkehr nach Frechen. Unser Haus war besetzt.

Am 26.XI.1945 Schulbeginn. Einschulung in die O III Ra der Kaiserin-Augusta-Schule Köln.

Juli 1947 Versetzung in die Untersekunda.

Seit Ostern 1950 in der Oberprima.

An meine früheste Kindheit, ich meine damit die Zeit zwischen meinem 4. und 7. Lebensjahr, erinnere ich mich noch sehr gut. Ich hatte keine Geschwister, und darum galt die ganze Liebe und Fürsorge meiner Eltern und meiner Großmutter mir. - Da meine Geburt sehr kompliziert war, wußten meine Eltern, daß ich keine Geschwister mehr bekommen würde, denn das Leben meiner Mutter sollte kein zweites Mal aufs Spiel gesetzt werden. Sie nahmen sich aber vor, daß ich deshalb doch kein verwöhntes, lebensuntüchtiges, „typisches Einkind" werden sollte. Trotzdem verwöhnten sie mich, nur anders als gewöhnlich. Meine Eltern haben sich sehr viel mit mir beschäftigt. Meine Mutter machte täglich mit mir Spaziergänge, einmal wöchentlich fuhren wir in den Zoo, wo uns Wärter und Tiere so gut kannten wie wir sie. Ich durfte, sobald ich Verlangen danach zeigte, im Haushalt mit tätig sein: kochen, waschen und beim Einmachen helfen. Einzige Bedingung für mein Mitwirken war, daß ich das, was ich anfing, zu Ende führen mußte. Zu den Obliegenheiten meines Vaters gehörte es, mich abends ins Bett zu bringen, was darin bestand, daß er mich vom Badezimmer abholte und ich auf seinen Schultern reitend die Runde durch sämtliche Räume machte. Dann turnten wir gemeinsam, und abschließend sang mein Vater entweder zur Gitarre, oder er las mir etwas vor. - Jedes Wochenende im Sommer verbrachten wir wandernd im Königsforst oder im Bergischen Land, in der Heimat meines Vaters. Auf diesen Wanderungen lernte ich Pflanzen und Tiere kennen. Aber nicht nur dort. Weil ich allem Lebendigen so sehr zugetan war, bekam ich Wellensittiche und ein Aquarium mit Warmwasserfischen geschenkt. Später kam ein Waldkater, eine Schildkröte und nach deren Ableben, Kaninchen, Enten, eine Gans und ein Hund dazu. Wir sind nie ohne Blumen und ohne Tiere gewesen. Auch ein kleiner Garten hat von jeher zu meinem Besitz gezählt.

In unserer Nachbarschaft wohnten nur Jungen. So kam es, daß ich bis zu meinem 9. Lebensjahr fast ausschließlich mit Jungen gespielt habe, und ich meine erste Freundin erst nach unserer Umsiedlung in Frechen kennengelernt habe. -

Meine ersten Schuljahre waren bitter. Abgesehen davon, daß ich ungefähr einen Monat nach der Einschulung sehr krank wurde und mit wenigen Unterbrechungen 1 ½ Jahr krank blieb, hatte ich einen schweren Anfang, da ich als einziges evangelisches Mädchen in eine katholische Schule mußte. Durch die Unnachsichtigkeit meines Lehrers, der meinen Mitschülern und Mitschülerinnen im Religionsunterricht erklärte, daß Protestantismus gleich Ketzertum zu setzen sei, wurde mir das Einfinden in die Klassengemeinschaft nicht nur sehr erschwert, sondern einfach unmöglich gemacht. Zum erstenmal in meinem Leben lernte ich Ungerechtigkeit kennen und zog daraus den Schluß, daß Wahrheit nicht zum Ziel brächte, sondern Lügen. Meine Eltern waren über meine Feststellung erschüttert. Sie versuchten ihr Möglichstes, mir zu helfen, die Sympathien des Lehrers und der Klasse zu erwerben. Alles Vermitteln nützte nichts. Doch wurde der ganze Qual nach zwei Jahren ein plötzliches Ende bereitet, als jener Lehrer mich wegen einer Kleinigkeit so schlug, daß mein Vater auf Anraten unseres Arztes eine Beschwerde an die Schulbehörde Koblenz schickte. Zwei Monate brauchte ich nicht am Unterricht teilzunehmen, weil die nächste evangelische Schule nur mit der Bahn zu erreichen war. Dann zogen wir nach Frechen, wo ich endlich Gelegenheit hatte, eine meiner Konfession entsprechende Schule zu besuchen. Zwar befehdeten sich auch hier die Konfessionsschulen untereinander, bis die Gemeinschaftsschulen gegründet wurden, aber diese kleinen Kämpfe und Auseinandersetzungen betrachteten wir allgemein als Sport und nahmen sie nicht so tragisch. -

Auch die Einschulung in die höhere Schule stand nicht im Zeichen eines Glückssternes. Nach dem ersten Schultag wurde ich krank, bekam Diphtherie[!] und Scharlach und mußte ein Vierteljahr aussetzen. Gegen ein Jahr Zurückstellung setzte ich mich mit allen Kräften zur Wehr, da ich es trotz aller guten Zusprüche als unter meiner Ehre empfand. Ich durfte in der Klasse bleiben mit dem Erfolg, daß meine Englischleistungen 1 ½ Jahr mangelhaft waren und blieben. Das wäre sehr deprimierend gewesen, wenn meine Eltern mir nicht geholfen hätten, indem sie an mich glaubten. Nach jeder verunglückten Arbeit erklärte mir mein Vater, daß er darin kein großes Unglück sähe, vielmehr davon überzeugt sei, daß die nächste gewiß besser würde, wenn ich nicht nachgeben und weiter eifrig lernen würde. Damit erreichte er, daß ich trotz aller Mißerfolge nicht den Mut verlor, mir nicht dumm oder irgendwie minderwertig vorkam, sondern daß ich weiter alle Kräfte zusammenriß, um ihm zu zeigen, daß er sich in seiner Tochter nicht täuschte. Überhaupt muß ich sagen, daß meine Eltern wohl das Beste getan haben, was Eltern tun können, indem sie mich nicht zum Lernen gezwungen haben, sondern mir von allem Anfang klargemacht haben, daß aller materielle Besitz vergänglich sei, geistiger Besitz jedoch kaum verloren gehen könnte. Richtig verstanden habe ich sie wahrscheinlich damals noch nicht, eins habe ich aber sofort begriffen, daß mein Vater für mein Schulgeld arbeiten mußte und ich darum auch zur Arbeit verpflichtet sei. Trotzdem war ich nie mehr als Durchschnittsschülerin, weil ich keine Begabung für Sprachen hatte und darum meine Interessen auf anderen Gebieten lagen. Zur Schule bin ich aber immer mit Begeisterung gegangen. Meine Vorliebe galt von jeher den Geschichts-, Deutsch- und Religionsstunden und darüber hinaus den Naturwissenschaften. Jeden Mittag wußte ich etwas Neues zu berichten und examinierte meine Eltern mit meinem frischen Wissen und endete meine Berichte jedesmal mit den Worten: „... und wir haben soviel gelacht." Mein Vater äußerte dann ein übers andere Mal seine Befriedigung darüber, daß seine Tochter sich so gut amüsiere. -

Wie alle Zehnjährigen kam auch ich in die Schar der Jungmädel. Fast fünf Jahre habe ich mit Eifer und Begeisterung meinen Dienst getan, obwohl gerade hier in der Braunkohlengegend, wo vorwiegend Arbeiter ansässig sind, die Zustände in der Hitler-Jugend alles andere als begeisternd waren. Ich war ganz eingesponnen von meiner Arbeit als Jungmädelführerin, habe mit den mir anvertrauten, ungefähr gleichaltrigen Mädchen im Sommer noch und noch Heilkräuter gesucht und im Winter Spielzeug für Soldatenkinder gebastelt. - Ich bereue das nicht, wenn mir diese Tätigkeit auch wenig Dank eingebracht hat und ich das heute mit andern Augen sehe. Irgendwie wird es doch Sinn gehabt haben, denn alles, was man reinen Herzens tut, kann nicht sinnlos sein. -

Mit 14 Jahren wurde ich konfirmiert. Viel Aufhebens wurde darum nicht gemacht, weil nach meines Vaters Worten eine Konfirmation keine Hochzeit ist und der fortgeschrittene Krieg keine Zeit zu großen Feiern ließ. Im Kreis unserer engsten Familie wurde der Tag festlich begangen. Das war das letzte Fest von besonderer Bedeutung, an dem mein Vater teilnahm. Ein Jahr später war mein Vater tot. Drei Tage nach meinem 15. Geburtstag fiel er einem Tieffliegerangriff zum Opfer. Tödlich verwundet lebte mein Vater noch eine Stunde bei vollem Bewußtsein. Er wollte meine Mutter und mich noch sehen, aber infolge der ständigen Angriffe kamen wir wenige Minuten zu spät. Ich sah meinen Vater, der wenige Stunden vorher noch lebensvoll und scherzend das Haus verlassen hatte, erst tot wieder. Im Leichenhaus lag er aufgebahrt, auf dem Fußboden um ihn herum einige Russen, die tags zuvor umgekommen waren. Eine Nonne, die uns zu ihm geführt hatte, schlug ein Laken zurück, das ihn bedeckte. Mein Vater war verblutet. Sein Gesicht war grau und blutverklebt. Ein Auge war noch offen. Ich habe es zugedrückt. Er sah nicht aus wie tot. Er schien tief und erschöpft zu schlafen, aber seine Hände waren eiskalt. - Ich habe das nicht begreifen können; habe immer geglaubt zu träumen, furchtbar zu träumen. - Meine Mutter war in den folgenden Tagen wie versteinert, sie nahm ihre Umgebung kaum wahr. Erst als die Front so nahe gekommen war, daß unser Ort und vor allem die Straße, wo wir wohnten, unter Artilleriebeschuß lag, löste sich ihre Erstarrung soweit, daß wir gemeinsam alles zur Flucht vorbereiteten. Denn mein Vater hatte kurz vor seinem Tode den Wunsch geäußert, daß wir, falls Frechen Kampfgebiet werden sollte, zur anderen Rheinseite gehen möchten, da die Kämpfe am Rhein nach seiner Ansicht sehr hart werden würden. Mit seiner Befürchtung hatte er recht behalten. Die Amerikaner nahmen Frechen 1 ½ Monate früher ein als das Oberbergische. -

Unsere Flucht unterscheidet sich kaum von der aller anderen, die fliehen mußten.

Den letzten schweren Angriff auf Köln machten wir in der Stadt mit. Einen Tag vor der Einnahme Frechens waren wir ein letztes Mal zurückgekehrt, um unbedingt notwendige Gegenstände zu holen. In unserm Haus war zu dem Zeitpunkt schon eingebrochen worden, alle Schränke ausgeräumt und ihr Inhalt teilweise auf dem Boden zerstreut. - In Morsbach/Sieg fanden wir bei Bekannten Aufnahme. Zwei Wochen später mußten wir uns ein neues Zimmer suchen, da unseres durch eine Jabobombe zerstört worden war. Daraufhin zogen wir zu entfernten Verwandten nach Nümbrecht und mußten dort nach 4 Wochen erleben, daß unser Wohnraum, diesmal von einer Artilleriegranate der einrückenden Amerikaner, wiederum vollständig zerstört wurde. Da alles Suchen nach einem neuen Zimmer erfolglos blieb, richteten wir uns in einer winzigen Abstellkammer auf einem Speicher ein. Meine Mutter, die bis dahin sehr unter dem Ganzen gelitten hatte, gewann gerade aus der Tatsache, daß es bei uns hineinregnete und die Mäuse unser Bett als Spielplatz betrachteten, neuen Mut und Tatkraft, und vor allem nahm sie das alles nicht tragisch, sondern humorvoll. Nachts beobachteten wir oft beim Kerzenschein das allerliebste Spiel der Mäuse, die ohne Furcht ganz dicht an uns herankamen. - Tagsüber machten wir von einem Dorf zum andern Botengänge für die Bauern der Umgebung, die uns dafür mit Brot, Milch und Kartoffeln versorgten. Wir mußten dabei immer Waldwege gehen, weil man ja nicht mehr als 6 km sich vom Wohnort entfernen durfte. Dadurch hatten wir manch schönes Erlebnis mit Tieren und den wenigen Menschen, die dort in den Wäldern wohnen. Mitten in der schrecklichsten Zeit des Krieges, erlebten wir Freude und Frieden. Das war aber auch sehr nötig, denn der Untergang des Deutschlands, wie ich es kannte und es mir nie hatte anders vorstellen können, hatte mich im Innersten erschüttert. Für mich ging damals eine Welt verloren, denn da ich nichts anderes kannte, hatte ich bis zuletzt auf unsern Sieg gehofft und an ihn geglaubt. Es war um so schlimmer für mich, als ich meinen Vater ja auch nicht mehr hatte. Mein Vater war für mich immer in all diesen Dingen maß- und zielgebend gewesen. Ihm hatte ich von jeher grenzenlos vertraut. Nun war ich völlig auf mich verwiesen, denn meine Mutter konnte mir nicht helfen, da sie selbst hilflos war. Dieses schrittweise „sich selbst eine neue Welt aufbauen" hat mich mit 15 Jahren selbständig gemacht und früh ans Denken gebracht, da ich erfahren mußte, daß andere einem keine wesentliche Hilfe geben können, wenigstens nicht in weltanschaulichen Dingen. Heute weiß ich oder glaube zu wissen, daß das der Zeitpunkt war, wo ich meine eigentliche Kindheit hinter mir gelassen habe, die ich bereits in dem Augenblick verlassen zu haben wähnte, als ich mein Spielzeug in den beiden letzten harten Kriegsjahren verschenkt hatte.

Vom Heimweh, vor allem nach meines Vaters Grab, getrieben, gelang es meiner Mutter schon im Mai, einen Passierschein zu bekommen. Nach dreitägiger Fahrt erreichten wir Frechen und fanden unser Haus von Amerikanern und Polen besetzt. Nachbarn nahmen uns für die ersten Tage auf. Danach bekamen wir ein Zimmer in der Nähe unseres Hauses. Wiederum erlangte meine Mutter mit vielen Mühen die Erlaubnis, Sachen, die im Keller standen, herauszuholen, damit wir uns etwas einrichten konnten. Außerdem durfte ich in unserem Garten arbeiten, in dem mannshoch Unkraut wucherte. Den ganzen Sommer hatte ich damit zu tun. Als es ans Ernten ging, taten das die Polen für mich. In der Zeit konnte man Beherrschung lernen, denn wenn sie auch ein Teil nach dem anderen vor unseren Augen zerstörten oder wegschleppten, Einspruch durfte man nicht erheben, weil diese Menschen unberechenbar waren und in allem recht hatten und behielten.

Schlimm wurde das, als wir unser Zimmer aufgeben mußten und eine Wohnung dort bekamen, wo nur Besatzungssoldaten rundum wohnten und eine Polin im gleichen Haus auf der ersten Etage. Wir waren zwischen all diesen Ausländern die einzigen Deutschen. Das wäre nicht so schrecklich gewesen, die Soldaten waren höflich und zurückhaltend, wenn diese eine Polin nicht gewesen wäre. Bei aller Rücksichtnahme und Zurückhaltung kam es doch fast täglich zu Auseinandersetzungen mit ihr, weil sie sich Unerhörtes auf jedem Gebiet erlaubte. Unsere Wohnung war nicht abzuschließen, darum mußten wir es uns gefallen lassen, daß sie uns zu jeder Zeit belästigte und mehr als einmal unsern Besuch aus dem Hause verwies. - Drei Monate machten wir das mit, dann zogen wir erneut um. -

An dem Tag im November 45, wo der Schulunterricht zum ersten Mal begann, bekamen wir die Wohnung, die wir noch innehaben. Unser Haus, das eigentlich nicht unser Haus ist, aber so genannt wird, weil wir es zu Lebzeiten meines Vaters bewohnt haben, wurde einen Monat später frei. Da wir zwei Wohnräume besaßen, viele Ingenieure mit ihren Familien aber noch sehr erbärmlich hausten, bekamen wir nur unsere verbliebenen Möbel und das Versprechen, später einmal in geregelten Zeiten wieder in den Räumen leben zu dürfen, die wir mit meinem Vater bewohnt haben und teil an dem Garten zu haben, den er angelegt und selbst geschaffen hat. Das ist freilich nicht eingetroffen. Wir haben auch kein Verlangen mehr danach, weil fremde Menschen alles nach ihrem Geschmack verändert haben und wenig vom Ursprünglichen übriggeblieben ist. -

Den Wiederbeginn der Schule habe ich sehr begrüßt. - Trotzdem ich vorher nicht über Langeweile klagen konnte, denn mit meiner Mutter handarbeitete ich für Lebensmittel, da die allgemeine Ernährungslage ja sehr schlecht und wir ohne Beziehungen zum Lande waren. Das behielt ich auch noch bis zur Währungsreform bei. - Den Umgang mit Gleichaltrigen, die es hier nicht gab, habe ich sehr vermißt. Darüber hinaus hatte ich aber auch Verlangen zu lernen, vorwärts zu kommen, fertig zu werden. - In den Jahren vor der Währungsreform hatte ich mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die alle zu der Zeit belasteten. Mein Schulweg, der vor dem Zusammenbruch höchstens zwei Stunden in Anspruch genommen hatte, beanspruchte nun die dreifache Zeit, da die Bahn mit Dampfantrieb, also Lokomotive fuhr und deshalb die Fahrgäste nur bis zur Stadtgrenze beförderte. Den übrigen Weg bis Ehrenfeld machte ich zu Fuß, denn die Verkehrseinrichtungen der Stadt waren ständig so überfüllt, daß sie kaum zu benutzen waren. Von Ernährungsschwierigkeiten wurden wir nicht verschont, aber wir hatten doch in den Jahren, wo alles fror, den Vorzug, warm sitzen zu können, da mein Vater auf einer Braunkohlengrube tätig gewesen war und uns daraus diese Vorteile erwuchsen. -

Allen zum Trotz, die behaupteten, daß es Sünde und Schande sei, so wenige Jahre nach dem Krieg und in solchen Notzeiten Vergnügungen nachzugehen, schickte meine Mutter mich 47 zur Tanzstunde, die mir anfangs wegen meiner Ungeschicklichkeit höchst zuwider war, später aber große Freude machte. Daneben gab es aber auch noch andere Freuden. Im Sommer fuhren wir mindestens einmal alle 14 Tage ins Theater. Im Winter war das unmöglich, weil wir den Rückweg zu Fuß hätten machen müssen. Der Weg vom Theater nach Hause ist uns nie zuviel geworden. Im Gegenteil, es entspannen sich meist so heftige und lange Diskussionen, daß wir zu Hause angelangt, noch lange nicht fertig waren. Als später diese nächtlichen Wanderungen nicht mehr nötig waren, habe ich es insgeheim bedauert, denn so nachhaltig wirkte das Gesehene kaum noch auf mich. -

Nach der Währungsreform wurde dann überhaupt alles besser und schöner für uns. Das wirkte sich auf allen Gebieten aus. Irgendwie war doch das Vergangene sehr bedrückend gewesen. Dieses Elend, das, wenn man es nicht selbst mitmachte, einen im engsten Bekanntenkreis, auf der Straße, überall begegnete, hörte zwar nicht ganz auf, aber es wurde doch sehr vermindert. Das Gefühl, daß alle Arbeit nun wieder an Wert gewänne, wirkte sich bei mir auch in der Schule aus. Ich erlebte und lernte noch bewußter als früher. Auch jetzt blieben Mißerfolge nicht aus. Trotz allen Lernens schrieb ich zwei mal hintereinander im Französischen eine Fünf. Danach war ich fest überzeugt, vollkommen untauglich zu sein und erklärte, nie wieder zur Schule gehen zu wollen. Meine Mutter war sehr unglücklich darüber und versuchte, mich von diesen Gedanken abzubringen. Ausschlaggebend dafür daß ich es noch einmal versuchte, war, daß es ja Wunsch und Wille meines Vaters war, mich so viel wie möglich lernen zu lassen. Meine erneuten Bemühungen waren zwar nicht direkt vom Erfolg gekrönt, aber nach und nach ging es doch etwas besser. Ein Ausgleich für meine schwachen Erfolge in den Sprachstunden waren für mich von jeher die Naturwissenschaften und vor allem die Deutsch- und Geschichtsstunden. Da war ich wenigstens nicht die Letzte und Dümmste, da verlor sich dieses Gefühl, und darum konnte ich in den Stunden und für diese Stunden wirklich lernen, weil da alle Bedenken fehlten und ich selten Angst hatte, etwas gänzlich falsch zu machen. Der Deutschunterricht der zwei letzten Jahre war für mich bedeutend mehr als nur Unterricht. Er hat mir vieles erschlossen und ungeahnte Klarheit in Dinge gebracht, die mich seit Jahren bewegten. Ebenso ist das in der Philosophiearbeitsgemeinschaft, die ich mitmache.

Abschließend möchte ich feststellen: In der Schule ist mir von allem Anfang an kaum etwas erspart geblieben. Ich habe für mich Schreckliches und viel Schönes erlebt. Trotzdem möchte ich mir zurückblickend nicht eine Stunde anders wünschen. Es war alles notwendig, um mich so zu machen, wie ich heute bin. Ich habe nur noch einen Wunsch, meine Schulzeit glücklicher zu beenden als ich sie angefangen habe und die Reifeprüfung, wenn auch nicht gut, so doch mit Durchschnittserfolg zu bestehen.