KAS (Köln)

Vorschläge für den deutschen Aufsatz des Sonderlehrgangs A

1.) Erinnerung an ...

2.) Wie verwirklicht Michael in Wiecherts „Hirtennovelle“ das Wort Carossas „Im engsten Kreise wag’s, dich reich zu leben“?

3.) Nicht der ist auf der Welt verwaist,
dem Vater und Mutter gestorben,
sondern wer für Herz und Geist
keine Lieb’ und kein Wissen erworben.
(Rückert)


Lebenslauf

Am 3. März 1928 wurde ich, Marlis F., in Köln geboren. Mein Vater, Carl F., besaß eine Krautfabrik in Rommerskirchen, und meine Mutter, Ellen Fudickar, stammt aus der Kölner Kaufmannsfamilie Nebgen. Ich bin römisch-katholischer Konfession.

Meine erste Lebenszeit verbrachte ich in Rommerskirchen. Ich entsinne mich keines klaren Bildes mehr aus dieser Zeit, wohl aber eines glücklichen, ganz unbeschwerten Gefühles. 1931 zogen wir nach Köln in das Elternhaus meiner Mutter, und im folgenden Jahre trennten sich meine Eltern. Ich blieb mit der Mutter allein zurück und habe von den unangenehmen Verhältnissen nicht viel gemerkt, garnichts verstanden.

Mit 6 Jahren kam ich zur Montessori-Schule in Köln. Rechnen, Schreiben und Lesen mußte ich größtenteils zu Hause lernen, weil ich viel krank war. Anfangs machte mir das Lesen, später das Rechnen Mühe. Dagegen waren Basteln und Geschichtenerzählen meine Lieblingsstunden. - Als ich 10 Jahre alt war, wurde ich auf der Kaiserin Augusta-Schule aufgenommen. Die Umstellung war anfangs groß. Von der Grundschule her war mir Einordnung in eine große Gemeinschaft und die damit verbundene Beherrschung des eignen Willens fremd. Dem Unterricht konnte ich gut folgen, besonders im Englischen, da ich seit einem Jahr eine englische Erzieherin hatte.

Ich ging gerne allein meine eigenen Wege und hatte die Angewohnheit, Gespräche mit irgendeinem unsichtbaren Gegenüber zu führen, in denen Raum und Zeit keine Grenzen gesetzt waren. Eine lustige, praktisch denkende Schulfreundin und der Krieg rissen mich durch ihren Einfluß aus der Verträumtheit und Eigenbrötelei. Weil Mutter viel im Geschäft tätig war, reiste ich in den Ferien mit Bekannten. Diese Wochen bedeuteten für mich eine Erziehung zu innerer und äußerer Selbstständigkeit, und ich merkte erst, wie sehr man mich bisher zu Hause verwöhnt hatte. Ich lernte mich nach anderen richten, aber ich begann auch, mich vor ihnen zu verschliessen. 1942 machte ich zwei Monate Landeinsatz auf einem Gut. Dort wurde ich angeleitet zu praktischem Denken und Zugreifen, und ich mußte bei der schwersten Arbeit durchhalten. Da ich sehr gerne in der Natur und mit Tieren zusammen bin, gewöhnte ich mich bald ein.

Zu ungefähr der selben Zeit ergriff mich eine Lesewut. Ich verschlang Reiseberichte, geschichtliche Erzählungen, Biographien und wagte mich sogar an schwere klassische Werke. Natürlich habe ich davon nicht viel verstanden und behalten.

In diesen Jahren lernte ich eine Frau kennen, die meinen Hang zum Träumen nicht zu unterdrücken suchte, ihn aber in rechte Bahnen lenkte. Ich bekam eine neue Klavierlehrerin, die mich in den Bann der Kunst, vor allem der Musik zog, sodaß sich darin für mich ein Weg fand, meine Gefühle auszudrücken. Alles Schöne in Klang, Wort, Farbe und Form nahm mich gefangen. Ich sah ein Ziel vor meinen Augen; dieses Ziel war Musik, war Harmonie mit mir selber und der Umwelt. Ich verdanke dieser Frau innere Sicherheit und die Einsicht, daß ich meine Erziehung zum Teil selbst in die Hand nehmen müsse. Von dieser Zeit an versuche ich, mir eine Richtung zu geben.

Durch diese Einflüsse änderte sich meine Haltung gegenüber der Schule. Nachdem ich einsah, daß das Arbeiten zu meinem eigenen Nutzen war und mich bereicherte, machte mir das Lernen Spaß. Meine Lieblingsfächer sind noch heute Deutsch, Musik und Geschichte. Gerade im Deutschunterricht habe ich manche Anregung für meine persönliche Einstellung zum Leben erhalten. Ich freue mich stets auf die Stunden, in denen wir über Gelesenes sprechen. Da geht mir der Sinn für die tieferen Zusammenhänge auf; man hört die Ansichten der Kameradinnen, kann daran die eigene Auffassung klären und formen und lernt gerade durch die Aussprache eigner Gedanken manche Mitschülerin erst wirklich kennen.

Nach einem Wohnungswechsel nach Bensberg erlitten wir im April 1944 Fliegerschaden. Meine Mutter zog in den Westerwald. Ich kam nach Bonn und habe mich dort in dem Hause, in dem ich untergebracht war und auch in der neuen Schule, Oberschule II Königsstraße, unglücklich gefühlt. Ich war in allen Fächern sehr zurück, hatte keinen rechten Schaffensmut und arbeitete mich nur in Englisch und Französisch herauf. Da ich durch mein Klavierüben nicht zur Last fallen durfte, fuhr ich zweimal in der Woche nach Köln und holte mir in meinen Stunden neuen Mut.

Als in Bonn die Schulen geschlossen wurden, kam ich zum Westerwald und fand dort genügend Betätigung in ländlicher Arbeit. Der Winter ohne elektrisches Licht war hart und einsam. Ich mußte alle musikalische Ausübung zurückstellen.

Im März 1945 wurde das friedliche Tal im Westerwald Kriegsschauplatz. Es fällt mir schwer, etwas von den Tagen zu berichten, in denen ich vorderste Kampflinie und Artilleriefeuer erlebte. Sie werden mir in ihrem schrecklichen Toben unvergeßlich sein. Wir mußten die zweite Heimat und alle Habe verlassen und wurden im Nassauischen von freundlichen Menschen aufgenommen, die gegen Mithilfe in Haus und Feld die Belastung auf sich nahmen. Ich setzte meine ganze Kraft für die hilfsbereiten Leute ein und empfand so die Bitterkeit des Angewiesenseins auf andere nicht gar zu hart. Immerhin war es eine Erlösung, als wir nach zwei Monaten in den Westerwald zurückkehren konnten. - Die folgenden vier Monate blieb ich dort oben allein. Sie waren ein Kampf gegen den bedrückenden Einfluß der Einsamkeit. Ich habe zur Zerstreuung viel im Haus und Garten gearbeitet. Die Nächte hindurch habe ich oft bei Petroleumlicht gelesen und Wache gehalten, da unser Haus völlig abseits lag und allerlei Gesindel die Gegend in Spannung hielt. In der Zeit habe ich jegliche Angst verlernt und bin viel selbstständiger geworden.

Als im November der Unterricht begann, kam ich nach Köln, um auf der alten Schule meinen unterbrochenen Bildungsgang wieder aufzunehmen. Es fiel mir schwer. Ich hatte vieles vergessen und vom Leben manches gelernt, was noch nicht verarbeitet war, und ich hatte durch das Alleinsein eine Unbeholfenheit im Umgang mit anderen angenommen. Heute komme ich in der neuzusammengestellten Klasse gut zurecht und arbeite mit Freude für unser gemeinsames Ziel.

Ich habe mich in der Zwischenzeit mit dem Gedanken abgefunden, daß eine berufliche musikalische Betätigung für mich nicht möglich ist, da ich schon 2 ½ Jahre keinen Unterricht mehr erhalten konnte. Es fällt mir heute schwer zu sagen, wie ich mir meinen zukünftigen Weg denke, da meine Liebe und mein Interesse noch immer auf musikalischem Gebiet liegen. Ich bin mir klar darüber, daß man heutzutage einen Beruf ergreifen muß, der Aussichten auf eine wirtschaftliche Unabhängigkeit bietet. Wenn meine Mutter es mir ermöglichen kann, so möchte ich gerne Zeitungs-, Theater- und Kunstwissenschaft studieren, um später Zugang zu Theater, Rundfunk oder Zeitung zu erlangen. Das käme auch meinen künstlerischen Neigungen entgegen. Das Gebiet ist sehr umfassend und bietet viele Wege, sodaß ich sicher eine Möglichkeit finde, meine Kräfte anzuwenden und im Leben einen Platz auszufüllen, der der Allgemeinheit nutzt und mir Befriedigung gibt.

Abituraufsatz

Nicht der ist auf der Welt verwaist, dem Vater und Mutter gestorben, Sondern wer für Herz und Geist keine Lieb' und kein Wissen erworben.

Rückert.

Gliederung:

1) Das Elternhaus gibt dem Menschen alles, was der Begriff „Heimat" umfaßt.

2) Es gibt außerdem eine innere Heimat.

a) Sie kann auf geistigem Gebiet liegen.

b) Sie lebt im Herzen der Menschen.

3) Man muß Wissen und Liebe erwerben.

4) Was mir der Spruch von Rückert sagt.

Ausführung:

Ich habe mich lange Zeit bedacht, als ich den Spruch von Rückert hörte, der mir als Thema gegeben ist, und ich konnte mich zunächst garnicht damit einverstanden erklären. Ich sehe jene beiden jungen Mädchen vor mir, die ich am Weihnachtsabend traf; sie waren von der Heimatgegend verwiesen, hatten zugesehen, wie der Vater in den letzten Kriegstagen erschossen wurde und hatten die Mutter todkrank auf der Fahrt zurücklassen müssen. Ganz arm und haltlos saßen sie vor mir, eins ans andere gedrückt, - waren diese Menschen nicht verwaist?

Ich bin ohne Vater aufgewachsen und kenne das schöne, sichere Gefühl nicht, einen Vater zu besitzen. Aber die Mutter verkörpert für mich das Elternhaus. Wenn ich das Wort „Mutter" höre, dann denke ich nicht nur an die Frau, die mich geboren hat, die für mich sorgt; es liegt darin all das beschlossen, was mir Heimat ist. Wie eine Pflanze aus dem Erdreich die Säfte zieht, die sie zur Entwicklung und zum Aufbau benötigt, wie ihr der Boden gleichzeitig Halt (und Stütze) bietet, so empfinde ich meine Heimat. Ihr Geist, deutsches und rheinisches Wesen haben mich geprägt. Die Heimat bietet mir Sicherheit und tiefe Geborgenheit, sie versteht mich, und ich verstehe sie, und alles um mich her ist hell und freundlich durch sie. In der Zeit, da ich durch Kriegsumstände in einer anderen Gegend zu andersgearteten Menschen kam, habe ich den großen Einfluß empfunden, den die Heimat auf mich ausübt und dem sich wohl niemand entziehen kann. Solange die Mutter mit mir zusammen war, fühlte ich noch einen Halt. Sie erinnerte an alles liebe in der Heimat. Ihre Sprache und ihr Denken waren mir gewohnt, ihr Geist erfüllte die fremden Räume. Als ich aber allein bleiben mußte im Westerwald, es waren die letzten vier Monate des Krieges_ , war ich so einsam, so haltlos wie ein Waisenkind. Und doch - - -

Nicht, wer ohne Eltern auskommen muß in der Welt, ist verwaist - Es muß also noch etwas sein, was dem Menschen Heimat bedeuten kann, wenn Verwaistsein nicht Elternlosigkeit bedeutet. Es muß im Menschen noch Werte geben, die ihn hochhalten, wenn er die Eltern und damit die Heimat verliert, ein Garten, wohin er fliehen kann, im Entwurf: wenn_ ihn das fürchterliche Los trifft. Diese innere Heimat besser: findet erkann er im Geistigen finden .

Ein Mensch, der viel gelernt und gelesen (hat) und darüber nachgedacht hat, füllt seine Seele mit großen Gedanken und Erkenntnissen. Es sammelt sich in ihm eine Fülle von geistigen Erlebnissen, Erinnerungen an stille Stunden wissenschaftlicher oder künstlerischer Betätigung, die ihn befriedigt haben. Er dringt immer ein Stückchen tiefer ein in das, was uns Menschen als bevorzugte Geschöpfe zuteil wird, wenn wir uns darum bemühen. Und weil jeder die geistigen Erkenntnisse von neuem erobern muß, empfindet die Seele sie als Eignes, das froh und sicher macht. Das Eigene wiederum hat der Mensch mit jedem gemeinsam, der auch darum kämpft, und er weiß um eine Verbundenheit mit diesen. Er ist nicht mehr verwaist, wenn er Eltern und Heimat verlor; er zieht seine Lebenssäfte aus dem Boden seines geistigen Reichtums und findet Halt darin. Die innere Fülle strömt über und vermag sich anderen mitzuteilen, und es schlägt sich eine Brücke zu fremden Menschen. Der Mensch bleibt in dieser inneren Heimat nicht allein.

Es muß eine tiefe Geborgenheit um die geistige Heimat sein. Ich habe es ein klein wenig empfunden, als ich in der Fremde war. Ein schönes Buch hat mir eine ganz andere Welt vorgezaubert, und wenn ich länger darüber nachdachte, und den tieferen Sinn verstand, dann wich die Einsamkeit von mir. Am sichersten spürte ich einen inneren Gewinn, wenn ich abends musizierte. Liebe alte Erinnerungen stiegen auf, und ich saß plötzlich nicht mehr in einem fremden Zimmer, sondern zu Hause am Flügel, und die Umgebung war heimatlich-friedlich. Diese A. Heiterkeitr Frohsinn blieb in mir und A. stärktemahnte mich, wenn mich die Trostlosigkeit überwältigen wollte.

Stifter gibt uns in der Einleitung zu seiner Novelle „Brigitta" einige Gedanken zu jenen seltsamen Fäden, die von Mensch zu Mensch gehen und ein Gewebe schaffen, O. das= i. Entw. richtigdaß Liebe und Freundschaft in sich birgt. Wenn ein Mensch Heimat und Halt verliert, und er weiß, daß dann noch irgendwo ein Herz schlägt, das ihm in Liebe zugetan ist, so besser: istmuß das ein großer Trost (sein) . Es ist das Alleinsein und Losgerissensein, i. Entw.: daswas ihn schmerzt, und der Gedanke an ein Wesen, das mitfühlt und mitleidet, das helfen will, wird den Heimatlosen erlösen. Kann er sichEr kann sich an einem tröstenden Wort, an dem bloßen Dasein eines lieben Menschen aufrichten, besser: so kann esund es kann nie ganz dunkel in ihm werden. „Wenn der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein", der darf sich sogar freuen, und freudiges Herz ist nicht heimatlos und verlassen.

Geistiger Reichtum und Liebe (in den Herzen) anderer Menschen bewahren uns vor Vereinsamung. Aber sie müssen beide A. durchin (stetem) Kampf und (in) Selbsterziehung erworben werden. Wir dürfen uns nicht begnügen mit dem, was uns in der Schule zugetragen wird an geistigen Gütern, wir müssen tiefer eindringen, müssen den Schatz vermehren, um nie einst leer und verloren da zustehen. Diese besser Aufgaber Gedanke wird für mich besonders wichtig werden, wenn ich bald aus der Schule heraustrete, umund im Leben selbständig zuwerde arbeiten müssen . Ich werde mich dann wappnen müssen für schwere Schicksalsschläge, damit dann „eine Fülle von Gesichten" [= Geschichten?] in mir A.ersteht , die meinem Leben Halt und „Heimat" gibtInhalt geben . - Auch die Liebe und Freundschaft anderer müssen wir erwerben. Wir sind nur wert dieser hohen menschlichen Beziehungen, wenn wir charakterlich gefestigt sind. Je vielfältiger wir Liebe säen, um so reicher wird sie uns (zum Segen) zurückgegeben.

Nachdem ich den Spruch so verstanden habe, möchte ich gerne noch einmal den beiden Mädchen begegnen und ihnen den Gedanken nahelegen: „Seht, ihr habt eure Liebe zueinander, habt euch vielleicht schon geistige Güter erworben. Ihr seid noch reich; denn verwaist ist erst der, der ohne Liebe und Wissen leben muß."

Rückerts Wort, das mir auf der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt begegnet, scheint mir ein rechter Leitspruch. Er regt mich an, alle Kräfte einzusetzen, um (einen) inneren Reichtum zu erwerben.

Eine schöne Leistung!

Die Verfasserin ist in den Sinn des Spruches tief eingedrungen und hat ihn in wohldurchdachten und klar aufgebauten Gedanken erschöpfend gedeutet. - Sie hat ihrer Arbeit eine geschickte und geschlossene Form gegeben. Der sprachliche Ausdruck ist sehr gewandt. Durch die Beziehung auf persönliche Erfahrungen der Verf. erhält die Arbeit eine warme und lebendige Note.

Sehr gut.

20.II.47. Kl.

Jahresleistung: vollauf gut.