KAS (Köln)

Vorschläge für den deutschen Aufsatz des Sonderlehrgangs A

1.) Erinnerung an ...

2.) Wie verwirklicht Michael in Wiecherts „Hirtennovelle“ das Wort Carossas „Im engsten Kreise wag’s, dich reich zu leben“?

3.) Nicht der ist auf der Welt verwaist,
dem Vater und Mutter gestorben,
sondern wer für Herz und Geist
keine Lieb’ und kein Wissen erworben.
(Rückert)


Lebenslauf

„Renate Luise Hildegard W., geboren am 21.7.1928 in Köln als erstes Kind des Bildhauers Ernst Adolf W. und seiner Ehefrau Hildegard geborene W.", so etwa mochte der Standesbeamte meine Geburt eingetragen haben. Die ersten fünf Jahre meines Lebens verbrachte ich in Köln. Im Juni 1933 zogen wir nach Waldbreitbach an der Wied, wo mir die Natur als ganz neue Welt entgegentrat. Sie fesselte mich, und die enge Bindung meines Lebens an die Natur besteht noch heute. Leicht und unbeschwert wie meine Kindheit war auch die 1935 beginnende Schulzeit. Das Lernen fiel mir leicht; daß das Stillsitzen dafür umso schwieriger war und meine Unruhe oft unangenehme Folgen hatte, nahm ich nicht weiter schwer.

Mein Leben änderte sich vollkommen, als wir im Frühjahr 1940 nach Köln zogen. Ich stand der Großstadt zunächst hilflos und erschrocken gegenüber und litt noch Jahre hindurch am Heimweh nach meinem Dörfchen. Doch mir erwuchs im Lernen ein Helfer, an den ich früher nicht gedacht hatte. Nach meinem sechsten Volksschuljahr nahm ich ein Jahr Privatunterricht und machte im Mai 1942 meine Aufnahmeprüfung für die vierte Klasse der Oberschule für Mädchen in der Machabäerstraße. Wohl war ich immer schon ein „Bücherwurm" gewesen, aber meine Neigung hatte doch mehr dem Zeichnen und Malen gegolten als dem Lernen; die Freude an Formen und Linien ist ein Erbteil meines Vaters. Als Kind hatte ich den Wunsch gehegt, Malerin zu werden; nun sah ich ein, daß meine Fähigkeiten wohl zum Ausüben einer Liebhaberei, niemals aber zur Kunst ausreichten. Ich wandte mich ganz dem Lernen zu, und es stand bei mir fest, daß ich Sprachen studieren wollte.

Die folgenden Jahre brachten mir häufigen Schulwechsel. Ich besuchte von Juli bis Dezember 1942 die Oberschule für Jungen in Singen am Hohentwiel, von September bis November 1943 eine Schule in Potsdam und von April bis Juni 1944 die höhere Schule in Oberlahnstein. Zwischendurch kehrte ich auf „meine" Kölner Schule zurück, die mir der Inbegriff der Schule überhaupt wurde.

Anfang Juli 1944 ging ich mit der Schule in der Machabäerstraße nach Bansin. Die See machte einen überwältigenden Eindruck auf mich, der noch meine ganze Erinnerung an das Jahr im Lager beherrscht. Den Kameradinnen ging ich zunächst als Außenseiter und Einzelgänger aus dem Wege, und ich brauchte lange, bis ich es lernte, mich an die Gemeinschaft anzuschließen, und bis ich in sie hineinwuchs. Im August 1944 brachte mir die Nachricht, daß mein Vater vermißt sei, eine Sorge, die ich bis dahin noch nicht gekannt hatte und die mein Leben um vieles ernster machte. Als die Front näher rückte, wurde die Schule im März 1945 nach Kellenhusen in Holstein verlegt. Meine Mutter und meine jüngere Schwester waren seit Januar bei mir, und gemeinsam kehrten wir im Juli 1945 nach Köln zurück.

Es ging uns wie vielen anderen auch; wir mußten uns ein Heim und eine Existenz neu schaffen. Ganz von selbst kam es, daß meine Mutter ihre Sorgen mit mir besprach und mich daran teilhaben ließ. Die Gedanken ans Studium traten vor den Anforderungen des Tages weit zurück.

Da meine alte Schule nicht mehr bestand, meldete ich mich bei Schulbeginn im November 1945 auf der Kaiserin Augusta-Schule an. Es wurde mir schwer, mich nach dem familienmäßigen Zusammensein im Lager an einen doch unpersönlichen, regelrechten Schulbetrieb zu gewöhnen; aber das Lernen war mir die schönste Entschädigung für die häuslichen Lasten, die bei der Berufstätigkeit meiner Mutter notwendig auf mich fielen, und es half mir so über manches Fremde hinweg.

Das Jahr 1946 verging im vergeblichen Warten auf ein Lebenszeichen von meinem Vater und in alltäglichen, sich immer wiederholenden Arbeiten und Sorgen. Den Gedanken ans Studium - ich möchte Philologie studieren mit den Fächern Deutsch, Latein und Griechisch - muß ich weiterhin zurückstellen; denn es kommt für mich zunächst darauf an, meine Mutter zu entlasten. Darum werde ich jede Arbeit ergreifen, die sich mir bietet.

Aber ob ich früher oder später meine liebsten Pläne verwirklichen kann, ich unwichtig; wichtig und wesentlich ist nur die ständige Bereitschaft zu Arbeit und Pflicht. In diesem Sinne möchte ich meinen neuen Lebensabschnitt beginnen.

Abituraufsatz

Nicht der ist auf der Welt verwaist, Dem Vater und Mutter gestorben, Sondern wer für Herz und Geist Keine Lieb' und kein Wissen erworben.

Rückert.

Gliederung.

A. Einleitung. Das Dichterwort als Beantwortung einer Lebensfrage.

B. Hauptteil. Nicht der ist auf der Welt verwaist, Dem Vater und Mutter gestorben, Sondern wer für Herz und Geist Keine Lieb und kein Wissen erworben.

I. „Weh dem, der keine Heimat hat!" (Nietzsche)

a. Das Elternhaus als Verkörperung des Heimatbegriffes.

b. Der Verlust der Heimat ist das große Elend unserer Zeit.

II. Punkt II war schärfer zu gliedern.Die eigentliche Heimat des Menschen liegt in dem Besitz seelischer und geistiger Werte.

C. Schluß. Wir müssen uns unsere innere Heimat selbst schaffen.

Es ist etwas Wunderbares um die Worte des Dichters, daß sie auf so viele Lebensfragen eine Antwort wissen und in mancher ernsten Lage helfen können. Heute möchte ich einem Worte Rückerts nachgehen:

„Nicht der ist in der Welt verwaist, Dem Vater und Mutter gestorben, Sondern wer für Herz und Geist Kein Lieb' und kein Wissen erworben."

Dieser Spruch soll mir für das heute so verbreitete Elend der Heimatlosigkeit A. Gemeint ist wohl: soll mir helfen, mich über das ... zu trösteneine Hilfe sagen .

Im allgemeinen bedeutet uns das Elternhaus die Verkörperung des Heimatbegriffes. Die Stimme und die liebe Hand der Mutter, der sichere Schutz, den wir beim Vater finden, (gibt) geben uns Trost und Geborgenheit und (ist) sind für uns wie_ eine immer offene Zuflucht. Diese Vorstellungen des Friedens und der Sicherheit verbinden wir auch mit dem Begriff „Heimat"; und es gibt wohl kein größeres Elend, als seine Heimat zu verlieren und wie ein entwurzelter Baum, hilflos und einsam, sich in der Fremde jedem Schicksalsschlag ausgeliefert zu wissen.

Diesem Elend begegnen wir heute so häufig. Es tut weh, (wenn) überall (andern) Menschen zu begegnen, die jählings aus ihrer Welt gerissen wurden und nun haltlos, wie besser: Blätterein welkes Blatt im Herbstwind, umhergetrieben werden. Solche Heimatlosen sind wahrhaft verwaist; denn geht es ihnen besser als einem Kinde, das Vater und Mutter verloren hat und nun hilflos unter fremden Menschen lebt, die es nicht versteht und vor denen es sich deshalb ganz verschließt?

Ich habe oft darüber nachgedacht, ob das Leben dieser Menschen nicht ganz leer und inhaltlos geworden sein müsse. Das Wort Rückerts hat mir diese Frage beantwortet.

Danach liegt die eigentliche, unverlierbare Heimat des Menschen in ihm selbst beschlossen, in den dauernden Werten, die er sich erwirbt. besser: Elternhaus u. HeimatÄußere Dinge können verloren gehen; seelische Werte aber bleiben bestehen und vermögen dem Menschen immer Halt zu geben, auch wenn ihn der so schmerzliche Verlust der äußeren Heimat trifft.

Am schwersten ist es wohl, die Liebe und das Verständnis verwandter Menschen zu entbehren. Darum schmerzt der Verlust der Heimat doppelt, wenn er mit dem Verlust geliebter Menschen verbunden ist und wir einsam in der Fremde zurückbleiben, um, wie wir meinen, ein liebloses Leben führen zu müssen. Aber Rückert sagt, daß ein Mensch, der Liebe erwarb, niemals einsam und verwaist sein wird, auch wenn er von den geliebten Menschen für immer getrennt ist; denn die Liebe erfährt keine Begrenzung durch eine Trennung; sie währt über Zeit und Raum hinaus, und selbst der Tod setzt ihrer Dauer kein Ziel. Die Liebe der Eltern weilt immer bei den Kindern und gibt ihnen auch über den Tod hinaus Kraft und Hilfe; und wieviele andere Menschen begegnen uns (noch), deren Liebe unsere Herzen füllen und bereichern kann! Wenn wir uns dieser Liebe weit öffnen, so bleibt sie als unvergänglicher Wert in unserem Leben bestehen und läßt es niemals ganz kalt und leer werden.

Wie die Gefühlskräfte des Menschen ihre vollständige Erfüllung in der Liebe finden, so gewinnt die andere Kraft, die unser Leben bestimmt, der Verstand, ihre Befriedigung im Wissen. Das Wissen ist ein Besitz, den wir uns nur durch ernstliches Streben, durch Mühen und Arbeiten erwerben können; aber es ist auch ein Wert, den uns kein äußerliches Ereignis mehr entreißen kann und der fähig ist, unserem Geiste Heimat zu werden. Heimat bedeutet ja Verwurzeltsein und Geborgenheit in vertrauter Umgebung, die uns reich macht; und welches Element wäre wohl dem menschlichen Geiste vertrauter als das Wissen, das er sich selbst erworben hat und womit er wahrhaft verwachsen ist? Bücher und Schriften, die Mittel und Werkzeuge, Gedanken zu übertragen und festzuhalten, sind und die als äußeres Zeichen des Wissens gelten, können verloren gehen, und gerade die heutige Zeit lehrt uns, wie unsicher ihr Besitz ist; aber die geistigen Schätze, die wir aus ihnen gewonnen haben, bleiben; sie bilden einen dauernden Wert für unser Dasein, der uns auch in der Fremde Trost und Halt gibt.

Wie hätten auch die großen Künstler und Gelehrten, die in ihrer Heimat nicht die für ihre Aufgabe nötige Anerkennung und nicht den richtigen Wirkungskreis fanden, das einsame Leben in der Fremde, in der Verbannung ertragen können, wenn ihnen nicht ihr geistiger Reichtum, aus dem eben ihre Lebensaufgabe entsprang, (ihnen) zur Heimat geworden wäre!

So liegt das Wesen der Heimatlosigkeit viel tiefer als nur im Herausgerissensein aus der äußeren Umgebung. Ein Mensch, der inneren Reichtum besitzt, wird niemals wirklich heimatlos sein; wenn wir dies aber erkennen, erscheint es uns als selbstverständliche Notwendigkeit, in unserer Seele eine Welt aus dauernden Werten aufzubauen, die uns auch in Zeiten äußerer Not Schutz und Geborgenheit sichert. Wir müssen Augen und Herzen der Liebe öffnen und Verstand und Sinne auf geistige Werte richten; dann gewinnen wir einen inneren Reichtum, der uns alle Schätze der Welt entbehrlich macht.

In zielstrebiger Darlegung guter Gedanken ist die Verfasserin „dem Wort Rückerts nachgegangen".

Punkt II des Planes war zu gliedern und in der Arbeit weiter auszuführen: die erworbene Liebe war als heimatschaffend stärker zu berücksichtigen. Die Arbeit empfiehlt sich durch klare, gewandte Sprache und sicheren Aufbau. Die Schlichtheit des Ausdrucks entspricht der Form der Abhandlung ebenso wie dem ernsten und bescheidenen Wesen der Verfasserin.

Gut.

20.II.47. Kl.

Jahresleistung: vollauf gut.