DKG (Köln)

Gesamtbeurteilung des Sonderlehrgangs F

Sonderlehrgang F

Die Hauptschwierigkeit, die es in einem Sonderlehrgang zu überwinden gilt, bilden die sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, unter denen die einzelnen Teilnehmer ihre Schulbildung wieder aufnehmen. Einige statistische Aufstellungen mögen diese Tatsache belegen:

1) Das Durchschnittsalter betrug am 1.12.1948 - 22 Jahre, 11 Monate. Der älteste Teilnehmer war zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre, 3 Mon., der jüngste 21 Jahre alt.

2) Mit einer Ausnahme hatten alle 26 eine längere Gefangenschaft hinter sich, und zwar kamen aus

russischer -       4
französischer -   5
belgischer -       2
englischer -       5
amerikanisch-englischer – 7
amerikanischer - 2

Dieser Umstand war von grossem Einfluss auf die Leistungsfähigkeit der einzelnen Teilnehmer. Die Behandlung der Gefangenen in den einzelnen Ländern weist erhebliche Unterschiede auf, von denen ihre körperliche und geistig-seelische Verfassung abhängt. Allein der sprachliche Gewinn im Englischen bevorzugt Heimkehrer aus angelsächsischen Lagern im Lehrgang vor solchen aus russischen, französischen und belgischen.

3) Die Unterbrechung des Unterrichts betrug im Durchschnitt 4 ½ Jahre, im längsten Falle 6 ½ Jahre.

4) An welches Mass von Schulausbildung konnte nun der Unterricht nach so langer Unterbrechung anknüpfen? Zur wirklichkeitsgerechten Beantwortung der Frage sei einmal der sog. Luftwaffenhelferunterricht ausser acht gelassen. Welches war dann die letzte vom einzelnen Teilnehmer besuchte ordnungsmässige Schulklasse? Es ergibt sich folgendes Bild:

Es gehören an

der Klasse 8 - 2 Teilnehmer
der Klasse 7 - 7 Teilnehmer
der Klasse 6 - 13 Teilnehmer
der Klasse 5 - 4 Teilnehmer.

Das bedeutet, dass 17 Teilnehmer praktisch nur die Schulkenntnisse von Obertertianern und Untersekundanern mitbrachten, soweit sie nicht auch die inzwischen vergessen hatten.

5) Nach den Heimatverhältnissen gegliedert, besuchen den Lehrgang

aus Köln                                - 12
aus anderen rhein. Orten         - 9
aus ausserrhein. Landesteilen - 5

6) Eine starke Belastung für einzelne Teilnehmer stellten die bis vor kurzem noch recht schwierigen Verkehrsverhältnisse dar: Immerhin besuchen 12 Fahrschüler den Kursus.

Inwieweit der Lehrgang unter diesen Bedingungen von Erfolg begleitet war, muss die Prüfung erweisen. Darin jedenfalls sind sich die beteiligten Lehrer einig, dass jeder der Jungen mit Ernst, Hingabe und Ausdauer um die Erfüllung der gestellten Forderungen bemüht war, unentmutigt durch Schwierigkeiten und Misserfolge. Disziplinschwierigkeiten sind nicht aufgetreten. Das Verhältnis zu den Lehrern gründete sich auf Respekt, Vertrauen und Dankbarkeit. Von seelischer oder sittlicher Verrohung war bei keinem der jungen Leute eine Spur festzustellen.

Zu Gunsten der draussen bewiesenen menschlichen Haltung spricht es, dass die meisten der Englandheimkehrer seit dem Jahre 1947 Anschluss an englische Familien und englische Familienleben gefunden hatten. Die aus den russischen Lagern und den französischen und belgischen Bergwerken Zurückgekehrten brachten ein echtes Bedürfnis nach Klärung des Weltbildes mit; ihre ausgesprochenen und unausgesprochenen Fragestellungen haben dem Unterricht in den Gesinnungsfächern eine gute Resonanz verschafft.


Beurteilung

Schüler K., Erich

Er hat schon mit 2 Jahren den Vater, einen Dipl. Ingenieur, dann im Kriege seine beiden Brüder verloren und hat, unter der sorgsamen Obhut der Mutter erzogen, einseitig Kräfte des Gefühls und Gemütes auf Kosten geistiger Straffheit entwickelt. Der Zwangsarbeit im belgischen Kohlenbergwerk war seine weiche Natur innerlich nicht gewachsen, die Erfahrungen jener Zeit bedrücken ihn heute noch und verstärken einen grüblerischen Zug seines Wesens. Sein Gedächtnis hat gelitten. Bei ausreichender Allgemeinbegabung ist er ein schwerfälliger, umständlicher, im Tempo langsamer Denker, auch mangelt es ihm an Selbstvertrauen. Bei dieser inneren Unausgeglichenheit ist ihm der christliche Glaube ein fester Halt; von dieser Erfahrung rührt sein Wunsch, Theologie zu studieren.

Lebenslauf

Hiermit bitte ich um Zulassung zur Reifeprüfung im Ostertermin 1949.

Am 3. Januar 1926 wurde ich meinen Eltern als 3. Sohn geboren. Es war zu Eschweiler, bei Aachen, wo mein Vater, Hubert K., als Diplomingenieur an einem Kohlenbergwerk seine Anstellung hatte. Er entstammte einem alten Bauerngeschlecht bei Köln. Zwei Jahre später kam er in Schlesien, wohin wir verzogen waren, bei einem Unglück unter Tage ums Leben. Meine Mutter, Magdalene, geborene S., Tochter eines Weinbauern an der Mosel, zog daraufhin mit ihren drei Söhnen nach Bonn. Sie erzog uns mit all ihrer mütterlichen Liebe und, wo es nötig war, auch Strenge. Nicht viel habe ich aus jener Zeit behalten, doch weiss ich, dass es uns an nichts Notwendigem fehlte. So vermisste ich in meiner kindlichen Einfalt auch damals meinen Vater noch nicht. Erst später, da ich reifer wurde, spürte ich immer schmerzlicher, was mir durch seinen frühen Tod verloren gegangen war. Und ich begann auch den zu lieben, den ich bewusst nie gekannt habe.

Als ich sechs Jahre alt war, schickte mich meine Mutter zur Volksschule. Ostern 1936 kam ich auf das Aloisiuskolleg nach Bad Godesberg. Da 1939 die Jesuiten die Schule verlassen mussten, wechselte ich nach Bonn in die 4. Klasse der Ernst Moritz Arndt Schule über, wo ich bis zur Einberufung blieb. Am leichtesten fielen mir die mathematischen Fächer, wogegen ich in den Sprachen Schwierigkeiten hatte, weniger jedoch aus einem Mangel an Verständnis, als vielmehr wegen zu grosser Vergesslichkeit. So war ich damals gezwungen, die 5. Klasse zu wiederholen.

Meine Freizeit verbrachte ich zu einem grossen Teil im Kreise von gleichdenkenden Kameraden, die ich in der Pfarrgemeinde gefunden hatte. In gemeinsamen Nachmittagsstunden, bei Spiel und Sport, und durch manche schöne Fahrt in unserer Heimat bauten wir uns unser Jungenreich auf. In diesen Jugendjahren lebte in mir ein glühender Eifer für alle hohen Ideale, obwohl ich sie in ihrer Tiefe noch nicht erkennen konnte. Mein späteres religiöses Denken und meine Weltanschauung liegen, wenn auch unbewusst, in den Erfahrungen und Erlebnissen dieser Zeit begründet.

Mit 17 Jahren wurde ich, als Schüler der 6. Klasse, Luftwaffenhelfer, das heisst, ich wurde aus meiner bisherigen Geborgenheit gerissen und plötzlich auf mich selber gestellt. Die vorher gewonnenen Werte waren zu tief verwurzelt, als dass mich die neue Umgebung hätte innerlich erschüttern können. Doch fehlte mir die lebendige Verbindung zu meinen Klassenkameraden. Obgleich ich mit allen Kameradschaft pflegte, blieb ich ihnen letztlich doch fremd.

In den ersten Monaten meiner Flakhelfer-Zeit erhielten wir zu Hause die Nachricht, dass mein ältester Bruder in Russland gefallen sei. Ein Jahr später wurde mein zweiter Bruder im Luftkampf abgeschossen. Zum ersten Male erfuhr ich durch diese Verluste, was Schmerz heisst. Mein jugendlicher Idealismus kam zwar verhältnismässig leicht über den Tod der Brüder hinweg, obwohl mir der zweite sehr nahe stand. Was mich tief ergriff, war der Schmerz, den ich an meiner Mutter sah. Hier eröffnete sich mir ein früher Blick in das, was Liebe und was Tod genannt wird.

Im Arbeitsdienst, zu dem ich im April 1944 aus der Klasse 7 einberufen wurde, änderte sich nichts an meiner Stellung zu den Kameraden. Im Gegenteil, ich begann immer mehr die Einsamkeit zu suchen.

Nach einer zweimonatigen Zwischenzeit, in der ich wieder die Schule besuchte und als Abschluss die Versetzung in die 8. Klasse erhielt, wurde ich zur Artillerie nach Dortmund gezogen. Auch hier fühlte ich die freien Stunden entweder mit dem Schreiben von Briefen an die alten Kameraden aus, oder ich spazierte alleine durch den an die Kaserne angrenzenden Wald. Denn ich liebte die Natur schon von den früheren Fahrten und Wanderungen her. An ihrer Schönheit konnte ich mich herzlich erfreuen, ob es nur ein feines Spinnengewebe war, an dem die Tautropfen wie Perlen in der Sonne schimmerten, ob ich durch einen Tannenwald ging, der sie wie ein Dom über mir wölbte, ob sich vor meinen Blicken eine weite Landschaft öffnete, oder ob die Sterne mit ihrem milden Glanz über mir leuchteten. Aber ich grübelte auch viel auf solchen Spaziergängen. Manch dummes Zeug war darunter. Doch zuweilen meldeten sich auch entscheidende Fragen an, Fragen nach Gott, nach dem Sinn dieser Welt, nach dem Wert, der Grösse und den Aufgaben des Menschen auf dieser Erde.

Im April 1945 geriet ich in Gefangenschaft, nachdem ich vorher acht Tage Fronteinsatz gemacht hatte. Man brachte uns nach Belgien, wo wir das erste Vierteljahr ohne jede Arbeit in Zelten kümmerlich lebten. In diesen Wochen lernte ich meinen Freund kennen. Ich weiss nicht mehr, wie viele Stunden wir mit Streitgesprächen über philosophische und theologische Probleme verbrachten. Aber ich wurde durch ihn geistig angeregt wie nie zuvor. Denn er, der anderen Glaubens war, zwang mich, zu Fragen Stellung zu nehmen, die mir alleine nie gekommen wären.

Mein Freund hatte eine Taschenausgabe von Goethes Faust I mit in die Gefangenschaft retten können. Da das Lagerleben wenig Abwechslung bot, griff ich nun erstmalig zu diesem klassischen Werk, und bald fand ich reges Interesse an der Lektüre. Wenn sich mir zwar das Drama als Ganzes noch verschloss, so konnte ich ihm doch viele einzelne Gedanken entnehmen. Vor allem aber erfreute mich der Klang dieser goethischen Verse. Auch manches Gedicht bekam ich in jenen Wochen in die Hand. Vor allem Hölderlins Hymnen beeindruckten mich. Damals suchte ich im Gedicht vornehmlich meine eigene Gemütsstimmung wiederzufinden. So glaubte ich eine Zeit lang, bei Rilke die gleichen Stimmungen anklingen zu hören, die meine Brust bewegten. Später, als ich in ein Arbeitslager überwiesen worden war, schloss ich mich einem Kreis gleich strebender Kameraden an. Einen von diesen achteten wir Anderen sehr, da er ein grosses Wissen besass und für seine Jugend gewiss schöne poetische Verse schrieb. Durch ihn gewann ich einen ersten tieferen Einblick in ein Drama.

Einen stärkeren Eindruck aus jenem zweiten Lager, wo ich über zwei Jahre als Kumpel unter Tage arbeiten musste, liessen die dort gewonnenen Lebenserfahrungen in mir zurück. Man hatte mich in die Abhängigkeit des Kapitalismus gezwungen. An mir und meinen Kameraden, und nicht zuletzt an den belgischen Arbeitern erfuhr ich, wie das Kapital rücksichtslos und unbarmherzig den Arbeiter bis auf seine letzten Kräfte aussaugt, vor allem mit der verlockenden, aber umso verwerflicheren Akkordarbeit. Auf der anderen Seite begegnete ich dem Arbeiter. Ich versuchte, mich in seine Situation hineinzufühlen, um ihn kennen und verstehen zu lernen. So gewann ich dort einige Menschenkenntnis, besonders, weil sich bald jeder in seiner Natürlichkeit gab. Es offenbarte sich an vielen Stellen die Not und Hilfebedürftigkeit der Menschen. Diesen Menschen konnte ich lieben.

Auf einem Spaziergang in Belgien fand ich am Wegrand ein Grab von deutschen Soldaten. Die Ungepflegtheit und Verlassenheit dieses Ortes erschreckte mich fast. Erneut drängte sich mir die Frage nach dem Sinn dieses Daseins auf, das an seinem Ende nur zu oft durch die gänzliche Verlassenheit und das Vergessensein von den Mitmenschen ausgezeichnet ist.

Im November 1947 wurde ich aus der Gefangenschaft entlassen. Seit April 1948 besuche ich den Sonderlehrgang des staatl. Dreikönigsgymnasiums in Köln.

Ich möchte Theologie studieren.

In mein Reifezeugnis bitte ich, einen Vermerk über mein Bekenntnis aufzunehmen.