DKG (Köln)

Vorschläge für den deutschen Aufsatz der Reifeprüfung 1932

1.) Vom Brief und vom Briefschreiben

2.) Mein Verhältnis zum Roman und zum lyrischen Gedicht

3.) Bericht über eine öffentliche Veranstaltung (Versammlung, Konzert, Schauspiel, Vereinsfeier oder dergl.)

4.) Vergessen und Vergeßlichkeit (Erlebnis, Charakteristik oder Abhandlung)


Beurteilung

S., Josef

hat eine feine Seele, die sich leicht in Klang und Farbe eines Kunstwerks einzufühlen versteht, aber er ist dem Leben gegenüber allzu zaghaft. Für alte Sprachen und für Mathematik hat er gar keine Anlagen, und er hat sich auch in den Mittelklassen bei der Aneignung des formalen Wissensstoffes sehr vernachlässigt. Wenn er bis zur Oberprima gekommen ist, so hat er das nur dem Umstand zu verdanken, dass seine Leistungen im Deutschen stets gut waren.

Lebenslauf

Hierdurch bitte ich um Zulassung zur Reifeprüfung Ostern 1932.

Nach vierjährigem Besuch der Volksschule kam ich 1922 in das erzbischöfliche Konvikt "Josephinum" nach Münstereifel, wo ich die Sexta und die halbe Quinta hindurch, bis Oktober 1923, blieb. Die Gründe, warum ich diese Anstalt verließ, waren, neben solchen wirtschaftlicher Art: 1923 Höhepunkt der Inflation, schwierige Beschaffung des Pensions- und Schulgeldes, insbesondere ausländischer Devisen, wie sie damals verlangt wurden, vor allem jene, die mich selbst betrafen, und die bei meinen Eltern wenig Widerstand hervorriefen: Unlust am Zwang des Konviktslebens, mein schwieriger Umgang mit den Kameraden, die mich, den Schwächeren, hänselten. Zu Hause wurde ich dann am Dreikönigsgymnasium aufgenommen. Aber später, eine Zeitlang nach meinem Austritt aus der Anstalt in Münstereifel habe ich diesen Schritt bereut, den ich mir damals nicht schön genug vorstellen konnte. Nie mehr später war ich geistig und körperlich so frisch und gesund wie in den anderthalb Jahren in Münstereifel, trotz aller Inflation und aller schlechten Zeit, die sich übrigens auch im Konvikt sehr stark bemerkbar machte, denn diese Ordnung, die in der Anstalt herrschte, dieses Regelmaß des gemeinsamen Tagesablaufs, das, und nicht zuletzt auch die gesunde Luft der Eifel, hat mir in der späteren Zeit reichlich gefehlt. Es zeigte sich sofort: Nun konnte ich, da ich allein war und ohne Aufsicht, - denn meine Eltern hatten es nicht nötig, mich zu beaufsichtigen, brachte ich doch gute Zeugnisse nach Hause, - ganz frei schalten mit meinen Nachmittagen, die ich bisher, wie mir schien, unter schärfster Kontrolle sogar der kleinsten Bewegung, die ich machte, hatte verbringen müssen. Nun hatte ich es nicht mehr nötig, tagtäglich drei lange Stunden, mit wenig Unterbrechung, im gemeinsamen Studiersaal zu sitzen, mit der strengsten Anweisung, zu arbeiten und nur ja nicht zu lesen, bei der Gefahr, daß das Buch kassiert wurde, - nun, ich muß gestehen, gerade unter dem Zwang des Silentiums, den ich auch jetzt noch als zu viel des Guten ansehe, habe ich viel gelitten. Das ist also das erste: ohne Aufsicht wurde meine Arbeit nachlässiger, aber nicht nur sie, auch alle die kleinen Pflichten, die man sich und der Pflege des Äußeren schuldig ist, wurden zum Teil unregelmäßiger, zum Teil ganz unterlassen. Aber auch eine andere Veränderung vollzog sich mit mir, eine wesentlich tiefere, seit ich wieder zu Hause war: Ich erlag einem Hang zum Grüblerisch-Träumerischen, mit dem es folgende Bewandnis auf sich hatte: Ich war zu Hause ganz auf mich allein angewiesen, niemand gab sich mit mir ab, - meine beiden Geschwister sind weit älter als ich, - durch die Zwischenzeit in Münstereifel hatte ich allen Anschluß an Freunde oder Bekannte verloren, und niemals, auch später und heute nicht, habe ich einen Freund besessen. Durch diese Umstände lernte ich bald alle Dinge nur von mir aus sehen, und, ohne jemals eines anderen Meinung über irgendetwas zu vernehmen, unter- oder überschätzte ich alles, wie es meinem kritischen Denken und Empfinden paßte oder zuwider war. Und noch etwas, und das ist das Wichtigste, schürte diesen Hang: mein falsches Lesen. Ich begann bald, meine ganze Freizeit hindurch, - und ich machte mir mehr Freizeit als Zeit zur Arbeit, - zu lesen, und ich las alles, dessen ich habhaft werden konnte, ohne viel Auswahl und Anspruch auf das, was ich verstehen konnte, und das war der Fehler: Nicht als ob ich alles in mich aufgenommen hätte, was ich las, nein, aber das Verständnis zu vielem fehlten mir, und was ich halb verstanden aufnahm, verarbeitete ich in langen Grübeleien zu höchst verworrenen Vorstellungen und Ansichten, die ich mir von niemand widerlegen ließ. Kein Wunder, daß mir später - wie auch heute noch - das gerade Denken so schwer fiel.

1927, - ich hatte gerade die Obertertia hinter mir, - erkrankte ich zu Beginn der Osterferien an einer eitrigen Bauchfellentzündung, einer überaus ernsten und lang dauernden Krankheit, deren glücklicher Ausgang Wochen hindurch ungewiß war. Diese Krankheit hat mir in vielerlei Hinsicht stark zugesetzt. Einmal gaben mir ihre äußeren Umstände reichlich Stoff zum Grübeln: ich wurde mitten in der Nacht und zwar auf den Karfreitag operiert, lag die Ostertage über sterbenskrank darnieder, machte später, als ich glaubte, wieder gesund zu sein, eine neue schwere Operation mit. Und schließlich war sie mir hinderlich in der Schule: Anfangs nahm man zwar überall Rücksicht auf mich, eine Tatsache, die ich sehr haßte, wie auch das Bedauern, das man mir von allen Seiten entgegenbrachte, und ich kam ohne Mühe durch das Einjährige, aber im folgenden Jahre merkte ich es deutlicher: die Arbeit, die ich sonst spielend erledigt, genügte nicht mehr, dazu kamen häufiges Unwohlsein, Schwächegefühl, Leib- und Kopfschmerzen (unter denen ich besonders viel zu leiden hatte), - kurzum, in die Unterprima konnte ich nicht versetzt werden.

Ich kam in eine andere Klasse und habe es nie bereut, wenngleich ich mir eingestehen muß, daß ich gewaltige Anstrengungen hatte, mich zu behaupten, Anstrengungen, die mir die Schule fast verleidet hätten, hätte ich nicht einen Kompromiß geschlossen zwischen ihr und den Dingen, die mich interessierten: der Beschäftigung mit Literatur und Literaturkunde. Mein Lesen unterschied sich gleich von dem früheren dadurch, daß ich verstand, was ich las, oder wenigstens mein Verständnis voraussetzte, ein Umstand, aus dem sich allmählich eine Vorliebe für besondere Schriftsteller und Literaturepochen entwickelte. Ich habe mich eine Zeitlang mit der Romantik beschäftigt, - warum? nun, ich muß gestehen, daß ich es selbst nicht weiß, wenn der Grund nicht im verlockenden Klang des Wortes Romantik zu suchen war, den ich auch heute noch seltsam empfinde, - von der ich mich aber nachher wieder abwenden mußte, da ich, wie ich glaube, als heute Lebender zu wenig von der damaligen Zeit und ihren Bedingtheiten, sowie auch von den romantischen Ideen selbst verstehen konnte. Was mir aus dieser Zeit bleib und vielleicht auch dauernden Wert für mich hat, das sind einige Erzählungen und Novellen Hoffmanns, Kleists und Eichendorffs. (Der goldene Topf, Kater Murr, Meister Martin. - Michael Kohlhaas, Anekdoten. - Taugenichts, Marmorbild, Schloß Dürande.) Aus der späteren Zeit waren es vor allem Keller und Meyer, die mir etwas gaben, dieser vor allem wegen seiner schlicht-herben Erzählungskunst, jener wegen seiner vollendeten Gedichte. (Einige aus den Leuten von Seldwyla und den Züricher Novellen. - Gedichte.) Aber was mir ganz besonders lieb geworden, so, daß ich jederzeit etwas von ihnen lesen könnte, das sind die Dichtungen Th. Manns und Rilkes. Beide liebe ich so sehr, weil ich in ihren Gestalten ein Stück von mir selbst zu sehen glaube, bei Mann die Unentschlossenheit, Untauglichkeit dem praktischen Leben gegenüber, bei Rilke des Verwalten des Gefühls zuungunsten des Verstandes. (Novellen, Königliche Hoheit, die Buddenbrooks, der Zauberberg. - Malte Laurids Brigge, der Cornet Rilke. Gedichte aus verschiedenen Büchern.) Mit der Zeit wurde mir übrigens die neuere Literatur die liebste.

Eine Zeitlang stand mir Nietzsche sehr nahe, und seine Lehre vom Übermenschen fand ich geradezu großartig, aber was ihn mir entfremdete, das war - es mag merkwürdig genug erscheinen - er selbst in seiner krankhaft körperlichen Konstitution, die mir seine hohen Worte, mit Pathos und Haß ausgesprochen, unglaubhaft machte. Aber auch heute lese ich noch manchmal gerne in seinem Zarathustra, seiner Sprache wegen, die ich unvergleichlich finde.

Was das Zeitunglesen anbetrifft, so muß ich gestehen, daß ich es recht spärlich betreibe und es fast hasse, weil ich mit dem Älterwerden erkannte, daß jede Zeitung beinahe alles, von der politischen Berichterstattung an bis zum Feuilleton, für ihre eigensten, d.h. parteipolitischen Zweck ausnutzt.

Neben der Literatur habe ich mich stets ein wenig mit der Geschichte abgegeben, aber damit hat es seine eigene Art: Geschichte, nach Zahlen geordnet, habe ich nie ertragen können, und weniger die großen Zusammenhänge in der Geschichte zwangen mir Beachtung und Staunen auf, als vielmehr einzelne Zeiten des Übergangs und des Umschwungs und ganz besonders die großen Männer, die diesen Epochen das Gepräge gaben: Luther und Napoleon, um nur sie zu nennen.

Noch eines muß ich erwähnen in der Aufzeichnung alles dessen, was ich, zu Nutz oder Unnutz meiner schulmäßigen Ausbildung, getrieben: das ist meine Vorliebe für das Schach. Sowohl der praktischen Partie, wie auch der unnützesten Philosophie, dem problemisierenden, theoretischen Schach verdanke ich viele schöne Stunden eines ruhigen und erbaulichen Lebens. -

Ich habe in den letzten Jahren meine Bücher immer mehr liebgewonnen und habe sie allem anderen vorgezogen, sogar dem Spaziergang, dem Wandern, der Geselligkeit, und ich erhoffe mir aus meiner Beschäftigung mit der Literatur meinen Beruf. Ich habe vor, mich um eine Stelle an einer Zeitung zu bewerben, oder, falls dies fehlschlagen und mein zweites Vorhaben ermöglicht würde, - auch darüber bin ich mir noch nicht im Klaren, - Germanistik zu studieren. Lange habe ich erwogen, ob nicht eine andere Möglichkeit des Berufes offenstünde, zumal ja heute fast jeder gezwungen ist, in erster Linie den Erwerb zu suchen, aber ich glaube fest, daß mir nichts anderes zusagt, und weiß aus mir selbst und der Bestätigung meiner Vorgesetzten, daß mir zu vielem beides, Veranlagung und Hingabe fehlt; ebensosicher weiß ich übrigens auch, daß ich mir nicht zutraute, als Werkstudent ein Studium zu betreiben.

Als Wahlfach nehme ich Deutsch.

Mein Religionsbekenntnis wünsche ich auf dem Abgangszeugnis vermerkt zu sehen.