DKG (Köln)

Gesamtbeurteilung des Sonderlehrgangs D

Kursus D

Dreizehn Teilnehmer zählt der letzte Abiturientenkursus des Dreikönigsgymnasiums. Das Gesamtbild dieser Klasse ist ansprechend und erfreulich. Es herrscht das gleiche Streben, dieselbe Besinnlichkeit, die zähe Entschlossenheit mit der Not fertigzuwerden, vor, wie beim ersten Abiturientenkursus. Bezeichnend ist es, daß die Mehrzahl der Schüler philosophischen Fragen ein besonderes Interesse entgegenbringt, das weitaus größer ist als es früher üblich war. Die Lebensbedingungen fast aller Teilnehmer sind mehr oder weniger hart, der Ernst ihrer Zukunft drängt sie dazu, ihre Bildung möglichst vielseitig und tief auszuweiten. Alle ohne Ausnahme möchten ein akademisches Studium ergreifen. Die Befähigung dazu wird man keinem von ihnen abstreiten können; ob sich aber die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht als stärker erweisen werden, wird die Zukunft lehren.

Vorschläge für den deutschen Aufsatz des Sonderlehrgangs D

1.) Der Mensch, ein Kind der Zeit, ein Herr der Zeit.

2.) Die tiefsten Wirkungen sind den Toten vorbehalten (Gorch Fock).

3.) Was erschwert uns den Glauben an die Zukunft unserer Vaterstadt, was hält ihn aufrecht?

Erläuterung zu 2) a) Die Lösung in der Form einer feierlichen Ansprache oder c) einer Abhandlung steht zur Wahl.


Beurteilung

Schüler G., Albrecht

leidet z.Zt. unter den häuslichen Verhältnissen, weil sein Vater beschäftigungslos ist und die Eltern dies sehr bitter empfinden. Einen Ausgleich für seine gedrückte Stimmung sucht er in der Musik Haydns, Mozarts und verwandter deutscher Komponisten, und er ist so weit auf diesem Gebiet fortgeschritten, daß er auch den Symphonien Bruckners Verständnis entgegenbringt. Er hat im Leben viel gegrübelt und nachgedacht, und eine gewisse Reife des Urteils tritt bei diesem Schüler in allen Fächern des Unterrichtes in die Erscheinung. Dem philosophischen Unterricht, der deutschen Dichtung und der Biologie bringt er ein besonderes Interesse entgegen, Rilke ist sein Lieblingsdichter. Ein Amt, das ihm eine Art seelsorgerischer Betreuung seiner Mitmenschen vermittelt, wäre das Ideal, das er zu verwirklichen wünscht. Als Arzt glaubt er am besten dazu Gelegenheit zu finden und möchte aus diesem Gesichtspunkt heraus Heilkunde studieren. Dadurch, daß er nur ein halbes Jahr durch Kriegseinwirkung dem Studium entzogen wurde, sind seine Kenntnisse auf allen Gebieten gut.

Lebenslauf

Ich bitte um Zulassung zur Reifeprüfung im Ostertermin 1948.

Am 27. September 1928 wurde ich in Erlangen geboren. Mein Vater leitete als Oberregierungsrat das Finanzamt Gunzenhausen in Mittelfranken. Dort verbrachte ich meine beiden ersten Lebensjahre. Danach wuchs ich in Pirmasens auf, in der Heimat meines Vaters, der dort 1930 die Leitung des Finanzamts übernommen hatte.

Was meine Erinnerung aus dieser Zeit bewahrt, sind Eindrücke, die ich unter dem Einfluß meines zwei Jahre älteren Bruders empfing. Ich lernte durch ihn Dinge erkennen, die sich mir bei selbständiger Erarbeitung erst viel später erschlossen hätten. So blieb es durch meine ganze Entwicklung - ich lebte geistig und seelisch in seiner Sphäre. Er war mein Führer, Beschützer und Freund.

Ich war gewohnt, alles mit ihm zusammen zu erleben. In den Ferien, die wir meist am Bodensee verbrachten, stand ich oft allein am Ufer im Kahn und wartete auf ihn, das Ruder in der Hand, zitternd vor Erwartung - und wagte nicht hinauszufahren, aus Angst, es könnte mir draußen im Schilf etwas Schönes begegnen, ohne daß er daran teilnähme. So wollte ich auch, daß alle Geschenke, die ich erhielt, ihm wie mir selbst gehören sollten. Für mich allein wollte ich nichts.

Ich liebte die Natur, die große Sternenwelt und die kleine Welt der Käfer und Gräser. Mich lockten die rauschenden, dunklen Wälder, die Pirmasens rings umschlossen. Diese Wanderlust, ein Wesenszug des Pfälzers, lag mir von den Vorfahren her im Blut.

Körperlich war ich gut entwickelt, doch etwas nervös. War ich allein, konnte meine Phantasie leicht Bilder erstehen lassen, von denen mein Herz unruhig schlug.

Ostern 1935 war ich in die Volksschule eingetreten. Da ich schon lesen und schreiben konnte, boten mir die ersten Jahre wenig Neues. Also begann ich, an der Pirmasenser Musikschule Musiktheorie zu lernen. Im ersten Jahr wurde ich in die Elemente der Harmonielehre eingeführt. Später nahm ich Klavierunterricht und begann zwei Jahre danach mit dem Studium der Flöte. Ihr weicher silbriger Ton hatte mich einmal so bezaubert, daß ich den heißen Wunsch hegte, einst diesem Ton meine liebevolle Pflege zu widmen.

Der Flöte verdanke ich viele Stunden tiefer Freude, die ich allein und an Hausmusikabenden im Familienkreise erlebte. Ich kam in enge Beziehungen zu den Kammermusikwerden von Haydn, Mozart, Beethoven, Händel und Bach, später auch in Berührung mit den Symphonien bis hin zu den Schöpfungen des großen Anton Bruckner, des frömmsten unter den Meistern.

Wie die Freude an der Musik, weckte mein Vater auch schon früh den Sinn für Werke der bildenden Kunst. Auf Ferienreisen führte er uns zu großen Architekturwerken und vor die Bilder und Skulpturen in ihrem Innern: auf der Reichenau, in Überlingen, Konstanz, in Speyer und Worms, in Bruchsal und Schwetzingen, Rothenburg, Würzburg und Veitshöchheim, in Straßburg und Freiburg, in Aachen und Paderborn. Dort lernte ich nicht nur die Stilformen kennen, ich verspürte damals im Halbdunkel der alten Dome schon den ersten Hauch von der Größe des Mittelalters und einen Duft von der prunkvollen Atmosphäre der Fürstenhöfe in den Barockschlössern und ihren französischen Gärten.

Landschaften prägten mir ihre unvergeßlichen Bilder ein. Der Bodensee mit den schneebedeckten Berggipfeln wurde mir zu einer zweiten Heimat, voller Erinnerungen an unser gemeinsames Treiben.

Mein Vater wurde 1939 als Regierungsdirektor nach Köln versetzt. Hier trat ich zu Ostern in das altberühmte Dreikönigsgymnasium ein; schon in meinem ersten Schuljahr brach der Krieg aus, dessen schwere Schatten die kommenden Jahre verdunkelten.

Ich hatte mit meinem Bruder eben die Schwelle zur Jugendzeit, die sich so schön gestalten sollte, überschritten, da stahl ihn der Krieg von meiner Seite, er rief ihn als Luftwaffenhelfer zur Flak. Mein bester Freund war mir genommen. Wir fanden jetzt wenig Zeit mehr zu vertrautem Gespräch. Erst als wir beide Soldat waren, entspann sich zwischen uns ein Briefverkehr, der mich und ihn beglückte und uns noch fester zusammenkettete. Schmerzlich hofften wir auf ein Wiedersehen.

Am 21. März 1943 wurde ich konfirmiert. Die Konfirmation gab mir festen inneren Halt.

Im Sommer 1943 wurde unser Haus zerstört. Die Luftangriffe wurden immer schwerer, und allmählich kam ich, wie alle, die hier in Köln den Krieg erlebten, in jenen Zustand, den Rilke in „Malte Laurids Brigge" schildert: „Alle taten ihr Tagwerk schlecht, weil sie sich ängstigten vor der Nacht und weil sie vom vielen Wachsein und vom erschreckten Aufstehen so ermattet waren, daß sie sich auf nicht besinnen konnten. Und so aufgebracht war man, so zu Ende, so überreizt."

Im Oktober 1944, als wegen der Luftangriffe der Schulunterricht nicht mehr aufrechterhalten werden konnte und auch die Ämter sich auflösten, reiste ich mit meinen Eltern nach Gießen und setzte dort am Gymnasium meine Arbeit fort. Mein Bruder war inzwischen als Soldat nach Detmold gekommen. Ich hatte das Glück, dort an seinem letzten Geburtstage mit ihm zusammenzusein.

Im Februar 1945 kam ich von der Schulbank weg zum Arbeitsdienst. Unser Lager lag in der Rhön, am Fuß der Wasserkuppe, in wilder, ursprünglicher Landschaft. Hier kam es schnell zu einer guten Kameradschaft. Wir erhielten unsere Rekrutenausbildung. Nach sechs Wochen zogen wir schwerbepackt in Eilmärschen nach Ilmenau, weiter an die Saale und von dort nach Jüterbog. Hier wurden wir von der Wehrmacht übernommen und zur Verteidigung Berlins bestimmt. Ich wurde von meinen Kameraden getrennt und kam zum Artillerie-Regiment der neu zusammengestellten Arbeitsdienstdivision. Wir lagen in der Nähe des Truppenübungsplatzes Jüterbog. Als eben die ersten acht Tage unserer Ausbildungszeit verflossen waren, griff gegen Mitternacht plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, der Russe unser ahnungsloses Lager an. Die Ställe flammten auf, von Saboteuren in Brand gesteckt. Jagdflugzeuge ließen ihre Maschinengewehre spielen. Hastig wurden die Pferde gerettet, in großer Verwirrung die Geschütze bespannt, und in raschem Zug ging's fort aus dem Lager nach Norden, in Richtung Berlin. Ehe wir jedoch die Stadt erreichen konnten, war sie bereits vom Feinde umgangen. Der brandenburgische Sand machte uns große Mühe. Zweimal mußten die Geschütze unterwegs in Feuerstellung gebracht werden. Als wir die Hauptstraße Magdeburg-Berlin bei Potsdam erreichten, war der Russe auch dort schon einmarschiert. Wir zogen auf der allgemeinen Rückzugstraße nach Westen. Bald hatte uns der Russe eingeholt. Nach der Waffenstreckung führte er uns in langer Kolonne in die Gefangenschaft. Wir befanden uns in einer fürchterlichen Lage. Das einzige Gute war, daß endlich die Waffen schwiegen.

Das entbehrungsreiche Leben im Gefangenenlager hat mich sehr geschwächt. Dazu quälte mich ständig die Sorge um meinen Bruder. In diesen Monaten las ich Goethes „Faust" und lenkte damit mein Denken und Fühlen weit ab von dem seelisch zermürbenden Alltag. Ende des Sommers 1945 wurde ich mit Herzschwäche und Wasser in den Gelenken als „jugendlich" entlassen.

Ich fuhr zu meinen Eltern nach Wertheim am Main. Dort traf mich die Nachricht, daß mein Bruder gefallen war. Wochenlang lag ich schwer krank. Nachdem ich mich erholt hatte, begann ich mit Privatlehrern wieder meine Schularbeit. Im Frühling 1946 kehrten wir nach Köln zurück. Ich trat wieder in den Kreis meiner alten Klassenkameraden ein.

Ich fühle Neigung zum Beruf des Arztes. Als Spezialgebiet werde ich die Orthopädie wählen. Die vielen unglücklichen Kriegsinvaliden, deren Leiden auch eine dauernde seelische Belastung mit sich bringt, brauchen nicht allein tüchtige, sondern auch mitfühlende, verstehende ärztliche Helfer.

Abituraufsatz

Reifeprüfung im Ostertermin 1948.

Deutscher Prüfungsaufsatz.

Köln, den 2. II.1948

Der Mensch, ein Kind der Zeit, ein Herr der Zeit.

Der Mensch Z.: ,_ als geschaffenes Wesen, steht unter der Gesetzlichkeit von Raum und Zeit Z., wie alle Geschöpfe. Aus diesem naturgesetzlichen Zusammenhang kann sich keiner herauslösen. Und dennoch: Die Zeitlichkeit steht vor dem Hintergrund der Ewigkeit. Fällt!Ferner ist des Menschen Geist-seele ein Geschaffenes zwar, aber sie besitzt Unsterblichkeit. Sie verbindet also den Menschen mit der Ewigkeit, und dieses Stück Ewigkeit, das er in sich trägt Z.: ,_ macht, daß er nicht nur der Zeit allein angehört. Er ist also von Anbe-ginn der Schöpfung nach Gottes Willen über die Zeit gestellt, Gedk. (klarer): der Anlage u. Möglichkeit nach...im Grunde genommen Z., als Herr.

Widerspruchsvoller Übergang zu einem überspitzten idealistischen [..?.]! (S. auch unten!)Durch den Menschen erhält die Zeit erst ihren Sinn. Denn die Erde dreht sich, die Planeten kreisen Jahrtausend um Jahrtausend in gleichem, inhalt-losem, sinnleeren Rhythmus . Erst das vernunftbegabte Wesen, der Mensch Z._ St. u. Sb. (straffer): unterscheidet d. s. Handeln ...durch sein Handeln unterscheidet die Augenblicke untereinander, indem er jedem einen bestimmten Inhalt gibt. s.o.Erst durch ihn, durch das von ihm geschaf-fene Nacheinander von Ereignissen Z.: ,_ entsteht Fällt!überhaupt erst etwas wie Vergangenheit, dadurch daß unwiederholba-re, Fällt!unersetzliche Gedk.: Was versteht Verf. unter „sinnvoller" Taten?sinnvolle Taten geschehen. Dazu ist aber als das einzige vernünftige We-sen auch nur der Mensch alleine fähig : „Er allein kann dem Augenblick Dauer verleihen."

Er erfindet, in irgend einem Augenblick, Maschinen. Er entwickelt Philosophiege-bäude, und er schreibt Dichtungen. Er führt Kriege und schafft Dome. Durch die-sen Tatengang entsteht das, was wir Geschichte nennen. Zweierlei Wirkung ha-ben diese Ereignisse. Erstens, wie schon gesagt, gestalten sie A (unklar): Er meint: Zeit, die im Zeitbewußtsein der Nachfahren als gesch. Vergangenheit er-scheint.Vergangenheit . Zweitens aber, und das ist ebenso wichtig, wirken sie Zukunft. Denn jede Tat eines Augenblicks zieht ihre Kreise in die fernsten Fer-nen der Zeit. Was heute gedacht wird, wird morgen getan. Siege, die heute errun-gen werden, werden morgen gerächt.

Hier deutet sich schon der Zusammenhang an, der zwischen dem Heute und dem Gestern besteht. Das Heute geht aus dem Gestern hervor. Daher trägt es natür-lich seine Spuren. Das wirkt auf den Enkel ein. Er wird geformt und beeinflußt durch die Vergangenheit, die in seiner Gegenwart lebt. In Goethe kam Klarer: das humanistische Erlebnis griech. Antike, ...die Antike , die in der Renais-sance ihre Auferstehung erlebt hatte, zur Reife. In Schiller erfuhr der Freiheitsge-danke, der durch die Jahrhunderte seit der Reformation in Aufklärung und Kla-rer: ihren Vorkämpfern, ..., seine ...großen Einzelnen, wie Rousseau, gewachsen war, zur R.Dichterischen Gestaltung. Viele andere große Beispiele dafür, wie die Zeit Unmißverständlicher: den M. formtihren Menschen schafft , bietet die Geschichte. Die Technik, aus kleinen Anfängen vor 100 Jahren entstanden, hat sich heute bereits ihren Fällt!spezifisch eigenen Menschentyp geschaffen. So ist der Mensch sicherlich immer das Kind seiner Zeit.

Aber trotzdem bleibt er ihr Herr. Denn ist er A (ungelenk): dem Einfluß der Umwelt, ...der Beeinflussung durch seine Umwelt , dem Zeitgeist gegenüber etwa nur passiv? Gibt er den Einflüssen kraft seiner Freiheit nicht vielmehr selbst Richtung und Grenzen? Gewiß, er muß sich von der Vergangenheit und seiner eigenen Zeit tragen lassen. Wertvoller Gedanke, der jedoch zu voller Klarheit entwickelt u. verdeutlicht werden müßte.Denn je tiefer ein Mensch sich von ihr formen läßt, je mehr zeitliche Tiefe einer hat, umso höher ist der Wert seiner Per-sönlichkeit . Aber die Vernunft des Einzelnen wählt, richtet u. verwirft, was an Zeitströmungen auf ihn einstürzt, Sb. u. Gedanke: Neuer Satz!die für ihn ge-fährlich sind . Der freie, souveräne Geist des Menschen formt sein Geschick wie seine Persönlichkeit selbst, frei von jeder Knechtung durch die Zeit. Denn es besteht hier ein großer Unterschied: Kind seiner Zeit ist der Einzelmensch immer, Knecht seiner Zeit aber ist der freie Mensch nicht. Denn wie wäre sonst das mög-lich, was die Geschichte als das herrlichste Zeugnis für die freie Herrschaft des Menschengeistes aufweist: Der große Mensch eilt seiner Zeit voraus!

Die freie Vernunft greift die Gedanken der Vergangenheit auf, faßt zusammen, gestaltet um, schafft u. entwickelt neue Gedanken und wirkt so, bestimmt von der Zeit, nun selbst wieder bestimmend in die Zukunft, menschliche Vernunft, die Herrscherin der Zeit.

Auf schmaler stofflicher Grundlage bietet Verf. eine ganz abstrakte Lösung, deren Gedankengang manchen Widerspruch aufweist (vgl. Absatz 1 und Absatz 2 ff.!) und sich von Abs. 2 an im Grunde genommen im Zirkel bewegt. Die im Thema beschlossene Problematik kommt in dieser Scheinlösung zu kurz. Immerhin be-müht sich Verf. nicht ohne Erfolg, eine geistige Einstellung zum Thema zu gewin-nen, und er entwickelt im einzelnen auch manchen ansprechenden Gedanken. Er verfügt im großen und ganzen über eine gewandte Ausdrucksfähigkeit. Man kann daher die Arbeit noch als

genügend

bezeichnen.

Schriftl. Kl.-Lstg: im Durchschnitt befriedigend.

Köln d. 20. Febr. 1948