DKG (Köln)

Gesamtbeurteilung des Sonderlehrgangs D

Kursus D

Dreizehn Teilnehmer zählt der letzte Abiturientenkursus des Dreikönigsgymnasiums. Das Gesamtbild dieser Klasse ist ansprechend und erfreulich. Es herrscht das gleiche Streben, dieselbe Besinnlichkeit, die zähe Entschlossenheit mit der Not fertigzuwerden, vor, wie beim ersten Abiturientenkursus. Bezeichnend ist es, daß die Mehrzahl der Schüler philosophischen Fragen ein besonderes Interesse entgegenbringt, das weitaus größer ist als es früher üblich war. Die Lebensbedingungen fast aller Teilnehmer sind mehr oder weniger hart, der Ernst ihrer Zukunft drängt sie dazu, ihre Bildung möglichst vielseitig und tief auszuweiten. Alle ohne Ausnahme möchten ein akademisches Studium ergreifen. Die Befähigung dazu wird man keinem von ihnen abstreiten können; ob sich aber die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht als stärker erweisen werden, wird die Zukunft lehren.

Vorschläge für den deutschen Aufsatz des Sonderlehrgangs D

1.) Der Mensch, ein Kind der Zeit, ein Herr der Zeit.

2.) Die tiefsten Wirkungen sind den Toten vorbehalten (Gorch Fock).

3.) Was erschwert uns den Glauben an die Zukunft unserer Vaterstadt, was hält ihn aufrecht?

Erläuterung zu 2) a) Die Lösung in der Form einer feierlichen Ansprache oder c) einer Abhandlung steht zur Wahl.


Beurteilung

Schüler B., Ferdinand

ist mit zweiunddreißig Jahren der älteste im Kursus, auch einer der reifsten Abiturienten. Da der Vater im Kriege, die Mutter schon im Jahre 1919 starben, ist Baptiste auf sich angewiesen. Selbständig denken und urteilen lernte er bei einem sechsjährigen Aufenthalte in der Schweiz, wo er eine private höhere Schule besuchte. Von hier aus erweiterte er auf Reisen in diesem Land und in Italien seine Kenntnisse. Selbstsicherheit gewann er auch in seiner aktiven Dienstzeit und in zweijährigem Kriegsdienst unter General Rommel in Afrika, schließlich in englischer Gefangenschaft. Er besitzt eine Neigung zur philosophischen Betrachtungsweise des Lebens, die eine glückliche Ergänzung an der Rhetorik und an schriftlichen rednerischen Ausarbeitungen findet. Für das Studium der Theologie bringt er gute Anlagen und wertvolles Streben mit. Die anfänglichen Schwierigkeiten, die ihm das Wiedereinleben in den Schulbetrieb un die Aneigung der Grammatik, namentlich in den alten Sprachen, verursachten, hat er durch seinen Fleiß überwunden.

Lebenslauf

Ich bitte um Zulassung zur Reifeprüfung im Ostertermin 1948.

Am 4. März des Kriegsjahres 1915 wurde ich, Ferdinand B., als Sohn der Eheleute Karl Eduard B. und Gertrud zu Köln geboren. Mein Vater war selbständiger Kaufmann und beschäftigte sich in seinen freien Stunden vorzugsweise mit Geschichte und Politik. Von ihm habe ich den Willen zur Unabhängigkeit und die Freude an Geschichte geerbt. Meiner Mutter verdanke ich die lebhafte Phantasie und Lebensfreude. Schon im ersten Kriegsjahr des Weltkrieges 1914-18 starb mein Vater als Infanterist bei Verdun, und meine Mutter folgte ihm einige Jahre später ins Grab. Es blieb ein unersetzlicher Verlust für mich, das liebe Elternhaus in seiner heimatlichen Art und kulturellen Beschaffenheit in meinem weiteren Leben entbehren zu müssen.

In Königswinter besuchte ich die Volksschule seit Ostern 1921, die nach häufigem Wechsel 1929 verliess.

Mein Vormund und Onkel liess mich nach meinem Wunsche einen technischen Beruf, nämlich den des Maschinenbauers, lernen. Neben dem praktischen Können erwarb ich mir auf der technischen Schule das theoretische Wissen. Meine theoretische Begabung war aber stärker als meine praktische Anlage. Während meiner praktischen Lehrzeit in einer Maschinenfabrik ging mir die politische, soziale und geistige Welt des Menschen auf in ihrer Gebrochenheit, in ihren Irrungen und Wirrungen. Zum ersten Male erlebte ich die verheerenden Wirkungen einer populären Pseudowissenschaft mit ihren Halbwahrheiten und Irrtümern. Durch das Lesen eines Büchleins über die Unsterblichkeit der Seele von Plato beschäftigte ich mich als Sechzehnjähriger noch eingehender mit philosophischen Lebensfragen. Schon während meiner Lehrzeit fasste ich den Entschluss zu studieren.

Nach Beendigung meiner Lehr- und Ausbildungszeit besuchte ich ab 1934 in der Schweiz die Privatschule. Durch einen beachtenswerten schweizer Lehrer in Deutsch und Geschichte lernte ich die drei Grundsäulen unserer Kultur in Antike, Germanentum und Christentum in ihrer Einheit und Mannigfaltigkeit kennen und würdigen.

Im Herbst 1936 unternahm ich eine mehrwöchige Reise und Wanderung nach Italien, wo ich die reiche Kunst- und Formwelt der Antike und der Renaissance in mich aufnahm. Vornehmlich in Rom, an der Quelle, erlebte ich den tiefen Einbruch und die fruchtbare Entwicklung des Christentums in der Antike.

Während meiner aktiven militärischen Dienstzeit von 1936-38 in Ulm und Stuttgart fühlte ich die grosse Spannung meiner europäischen Denkungsart zur nationalen. Kopf und Herz fochten da oft einen ungleichen Kampf aus.

Im Frühjahr 1941 verliess ich endgültig die Schweiz, um als Frontsoldat, als Infanterist, an dem Afrikafeldzug von 1941-43 teilzunehmen. In wechselvollen Kämpfen erlebte ich von Ägypten bis Algerien die bunte Welt des Orients gemischt mit der modernen Zivilisation Europas. Manches reifte und zeigtigte[=?] die afrikanische Sonne in mir.

Am Ende des Afrikafeldzuges 1943 geriet ich in englisch-amerikanische Kriegsgefangenschaft und befand mich im Herbst 1943 in den Vereinigten Staaten. Ein bleibender Eindruck wird mir von der wirtschaftlichen und industriellen Welt Nordamerikas bleiben, wo die moderne Technik in ihrer reichsten Entwicklung im Dienste des Menschen steht. Um uns vor Lethargie und Resignation zu bewahren, gestatteten wir Gleichgesinnte uns ein kulturelles Lagerleben in Form von Schule, Theater und Konzert. Ich muss gestehen, dass ich kaum Menschen angetroffen habe, die wirklich eine seinsgebundene und ethischverpflichtende Paideia besassen. Die Wissenbildung des Amerikaners dienst rein als Ausbildung für sein Fach- und Berufswissen. Selten habe ich den Mangel an reicher Geselligkeit und echter Unterhaltung in Toleranz und Würde so stark empfunden wie damals unter eigenen Landsleuten. Gerade in einer solchen Lage, von allem beraubt, lebt man von den bleibenden Werten und charakterlichen Formen des Menschen.

Nach 32 Monaten verliess ich diesen amerikanischen Kontinent und wurde im Sommer 1946 an England überwiesen. Hier arbeitete ich im Wohnungs- und Strassenbau. Wie arm war doch in dieser puritanischen Luft die Kunst als Lebensgestalterin geworden, die selbst die vielen Museen nicht zu ersetzen vermögen. Ich sehnte mich nach der musischen Kunststätte Italiens. Immer stärker gewann ich die Überzeugung, wie wenig wir an geistigen Gütern vom Ausland erwarten können, hier ruhen die Schicksalssterne in unserer eigenen Brust. Danach aber bedarf das gehaltvolle Denken des Deutschen der festen Formkraft des Romanen.

Endlich schluß Anfang 1947 meine Befreiungsstunde. Nach sechsjähriger Odyssee konnte ich in meine arme, zerstörte Heimat zurückkehren.

Seit Ostern 1947 besuche ich dank dem gütigen Verständnis des Herrn Oberstudiendirektors Dr. Klein und des Herrn Regierungsdirektors Dr. Schnippenkötter das Dreikönigsgymnasium in Köln. Es ist meine innige Bitte, mir hier an dieser würdigen Bildungsstätte das Reifezeugnis für den Besuch der Universität zu erwerben, um dort Philosophie und Theologie zu studieren.

Abituraufsatz

Reifeprüfung im Ostertermin 1948

Deutscher Prüfungsaufsatz.

Köln, den 2. Febr. 1948

Der Mensch, ein Kind der Zeit, ein Herr der Zeit.

Es obliegt dem Menschen als Leib-Seelewesen, das in Raum und Zeit A: Bild-gehalt unklar!ausgespannt ist, die hehre Aufgabe Z._ durch seine Geistigkeit Rhetorische Übertreibungen: Er meint: Streben nach Versöhnung des Endlichen mit dem Ewigen.im Denken und Tun die Endlichkeit und Zeitlich-keit zu überwinden, sich zu einem höheren und zeitlosen Dasein zu erheben . Diese Stufen zu beschreiten Z._ ist langwierig und mühselig, nur wenigen Menschen ist es vergönnt, zur Eigenständigkeit und Mündigkeit im Wissen und Urteil zu gelangen, sich vom Kindsein zum Herrsein Gr. Bezhg.: gegen-über_ der Zeit zu erheben.

Der Einzelne wie die Gemeinschaft leben und wachsen unter gegebenen Verhält-nissen, äusseren Wirklichkeiten und festen Daseinsbedingungen Fällt!auf . Diese Welt ist geformt, durchwirkt und durchtränkt von Geschichte und Mythos, von Sitte und Religion. Hier Gr. Bezhg: besser Plural!ist das Menschenkind wie das werdende Volk den Bedingungen von Raum und Zeit un-terworfen, bis es Z._ mündig geworden, in Kritik, Sichtung und Wertung des Alten und Neuen Gr. Bezhg: besser Pluralseine eigene Wege gehen kann .

Der Einzelne und die Gemeinschaft stehen zur festgeformten Gedanke unklar: Umwelt einer reichen Überlieferung ...und reich überlieferten Umwelt ihrer Ge-schichte in einem Verhältnis wie das Kind zu den Eltern. Wie das Kind in sei-ner Einfalt und Gläubigkeit, in seinem Hinhorchen und Fragen, so Gr. Flüchtig-keitlauschen sie die Ansichten, Lehren und Weisheiten ihrer Eltern, Vorfah-ren und ihrer Zeit. Dies ist notwendig und gut so, denn wer geben will, muss erst empfangen haben.

Allerdings lehrte Rousseau: der Mensch solle Z._ unberührt von jeglicher Kultur und Zivilisation, frei in der Natur aufwachsen, da der Mensch von Natur gut Konj.ist und die Zivilisation den Menschen nur verderbe. Dies wider-spricht aber einer Wesensanlage des Menschen, der ja auf die Gemeinschaft durch seine Gr. Flüchtigkeitäussere Sinne schon hingeordnet ist. Was für ein barbarischer Zustand wäre es für die Krone der Schöpfung, nie aus dem Lallen und Stammeln eines Säuglings Besser: heraus-hinauszukommen , wahrlich wenig schmeichelhaft für ein animal rationale und animal sociale. Das Menschenkind soll und muss die Bereitschaft haben, unvoreingenommen alles Gute und Edle aus Elternhaus und Schule, aus Geschichte und Sehen in sich auf-zunehmen, sich lehren und führen zu lassen, damit Phantasie und Gemüt, Herz und Verstand reich und gebildet werden, denn was man nährt, das wächst.

Das Goethe-Zitat hier fehl am Platze: Der Nachdruck liegt auf dem aktiven „erwerben", nicht auf dem „ererben".Alles, was von Menschen überliefert und er-halten, durch Generationen geheiligt und geweiht ist, muss als kostbarster Schatz gepflegt und geehrt bleiben, denn „was du ererbst von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen" .

Wie arm und dürftig wäre Goethe an Herz und Geist geworden, hätte nicht sein allzu besorgter Vater ihm alle Gebiete der Natur-, Geistes- und Kunstwelt er-schlossen.

Aufs R.Grosse übertragen erhebt sich hier die Frage Z., hätte uns jemals Pron. (das)dieses geistig lebendige und kulturreiche Volk der Griechen einen Homer schenken können, wenn sie nicht selber wie Kinder ihren Sängern die Sagen und Geschichte gläubig und einfältig abgelauscht hätten? Sei-en wir froh um die echte Einfalt dieses hochbegabten Volkes, das uns die Sonne Homers aufleuchten liess.

Selbst Geschichte in ihren Epochen und Episoden wäre kaum denkbar, wenn nicht die Menschen als Kinder ihrer Zeit das heilige Erbe ihrer Ahnen auf Gr. (-m)heimatlichen Boden zu erhalten und zu schützen Gr. (trachte-ten)trachten . Welche Kraft quillt aus den tiefen Quellen einer reichen Über-lieferung in Geschichte und Volk. Für diese Werke kämpfte ein Leonidas an den Thermopylen, ein Winkelried bei Sempach; denn der heimattreue Mensch steht fest auf der wohlgegründeten Erde. Hier würde die Zeit durch die unsterbliche Tat des Helden verewigt.

Wo es keine Überlieferung, keine Bodenständigkeit und keine Vätersitte gibt, da herrscht das unfruchtbare Nomadenleben von irgendwoher nach irgendwohin. Dies möge der moderne, entwurzelte Zivilisationsmensch bedenken, R.das jegliche Kultur einer festen Heimstätte bedarf. In Tradition und Bin-dung ist der Mensch Kind seiner Zeit.

Die Lebensgewohnheiten und Denkformen der Eltern und Vorfahren können für das Kind nicht in allem Norm und Dogma sein. Denn das Leben ist immer quell-frisch, A (besser): sprunghaftunstetig , Formen brechend und Formen suchend. Es gäbe keinen Charakter, keine Einzelpersönlichkeit, keine Form und keinen Stil, würde der Mensch nicht versuchen, nun erwachsen und mündig ge-worden, eigene Wege zu gehen, neue Formen zu suchen. Denn Herr sein heisst herrschen, überwinden und gestalten.

Auf diese Weise verdanken wir den Vorsokratikern in ihrem Persönlichkeitsbe-wusstsein die Stil (substant. Häufung): Verbal!Begründung der Wissenschaft durch die Überwindung des Mythos durch die Vernunft. Forschergeist und Kritik verdankt das Abendland als geistiges Erbe diesen ersten griechischen Phi-losophen.

Augustinus hätte kaum eine De civitate Dei schreiben können, wäre er nicht über den Staat Platons hinausgegangen zum Reiche Gottes.

Beweisen nicht die vielfältigen Staatsformen A. (nachlässig): dervon A-ristokratie, Demokratie Z.usw. wie wenig sich das bunte Z._ reiche Leben eines Volkes in Flüchtigkeit: i. Entw. r.festen, star-ren Formen zwingen lässt Z.. So eilte der kluge Staatsmann Peri-kles in seiner weisen Staatsführung weit seiner Zeit voraus. Und was hat ein Frei-herr von Stein für die Verwaltungs- und Gerichtsfreiheit von Stadt und Land in ei-ner Graph. Flüchtigkeitabsolutistische Zeit Z.. Sie schufen neue Lebensformen.

Wer aber zwingt, händigt und verewigt das Zeitliche in das Zeitlose, das Fliessen-de in das Bleibende Z._ und wer Gr. sonst_ vermag dem Augen-blick Dauer zu verleihen als der Mensch? Denn er untersteht nicht den ehernen Gesetzen der Natur, er wählet, richtet und scheidet. Fällt!Denn in der Bildung seiner Persönlichkeit, Gedankl. Wiederholung: Fällt!in der Entfaltung und Bildung seiner Talente, in Tugend- und Charakterleben Ged. schär-fer: im Streben nach Verwirklichung seiner E...in der Ebenbildlichkeit mit Gott wird der Mensch des Raum-Zeitlichen, des Bedingt-Zufälligen entmächtigt, enthoben und Übertrieben: nähert sicherhebt sich in die Sphäre des Ewig-Unsterblichen, in Ruhm und Ehre bei Mit- und Nachwelt.

In dieser edlen, frommen Gesinnung ehren wir unsere unsterblichen Dichter, Künstler, Forscher, Philosophen, Helden und Gr. (flüchtig): -nHeilige .

Denn letztlich überwindet gerade der heilige Mensch das Zeitliche durch das Ewi-ge, die Existenz durch die Essenz, seine Natur durch die Übernatur. Im Gewissen des Menschen Bild: begegnenschneiden sich Vergangenheit und Zu-kunft, Zeit und Ewigkeit, und in den Gewissensentscheidungen der Menschen wird Leben und Geschichte wirklich und bleibend.

Nur wenn wir die Gegenwart Stilbruch: Absinken ins Banale und Phrasenhaf-te.beim Schopfe greifen, sie in Denken und Tun, in Wirken und Vollbringen fest-halten und unentrinnbar machen, sind wir in Wahrheit Herr, Überwinder und Gestalter unserer Zeit.

Die Arbeit ist klar aufgebaut: Mit innerer Anteilnahme, temperament- und ver-ständnisvoll wird unter dem Bild der Kindschaft die fruchtbare Bindung des Men-schen an die natürlichen Ordnungen der Familie, des Volkes, der Überlieferung in Sitte und Brauch aufgezeigt (S. 1-3), sodann - ein wenig sprung- und skizzenhaft zwar - der Mensch als Gestalter in Leben und Geschichte begriffen (S. 4) und schließlich (S. 5) sub specie aeternitatis als Herr der Zeit erfaßt. Läßt die Arbeit hier und da (S. 4 ff.) Wünsche hinsichtlich fein gefügter Gedankenführung offen, so entschädigt sie dafür durch rhetorischen [.?.] im ganzen und gute Ausdrucksfä-higkeit im einzelnen. Ein paar sprachliche Entgleisungen erklären sich aus über-hasteter Niederschrift: der umfänglichere Entwurf wurde bei der Reinschrift ge-kürzt.

In vollem Maße

Gut.

Schriftl. Kl.-Lstg.: gut - sehr gut

Köln, d. 20. Febr. 1948