DKG (Köln)

Gesamtbeurteilung des Sonderlehrgangs E

Lehrgang E

Alle Teilnehmer dieses an Zahl schwachen Lehrganges sind nach der langen, z.T. 5 jährigen Unterbrechung ihrer Schulzeit von dem ernsten Willen beseelt, ihre volle Arbeitskraft der Schule zu widmen, um ihre selbst unangenehm empfundenen Bildungslücken zu schliessen und das erstrebte Ziel des Zeugnisses der Reife zu erreichen. 2 Lehrgangsteilnehmer (N., R.) sind Ostflüchtlinge, die, ganz auf sich gestellt, sich erst in 2 jähriger Tätigkeit durch Handarbeit die Geldmittel für den Schulbesuch erworben haben. Alle sind mit Kriegseinsatz und Gefangenschaft durch eine harte Schule gegangen, die ihnen andererseits aber auch menschliche Reife und Ernst der Lebensauffassung einbrachte.

Hervorstehende Begabungen sind nicht in dem Lehrgang vertreten; vielmehr haben die Teilnehmer durch Fleiss und beharrliches Streben ein befriedigendes Gesamtergebnis erzielt. Alle Lehrgangsteilnehmer wollen ein akademisches Studium ergreifen.


Beurteilung

Schüler N., Alfred

Hinter seinem ruhigen und höflichen Wesen, das Beherrschtheit und Selbstzucht verrät, verbirgt sich ein zielbewusster und energischer Charakter, der herzhaft das Leben angreift und meistert. Er wird im Leben gut seinen Weg machen. An Lebenserfahrung ist er seinen Kameraden überlegen. In der für ihn als Ostflüchtling besonders schwierigen Nachkriegszeit hat er sich ohne finanziellen Rückhalt an seiner im Osten zurückgebliebenen Familie als Handarbeiter durchgeschlagen. Kritisch beobachtet und wertet er auch in der Schule die Menschen und Sachen. Dabei ist er für jede Hilfe und Anleitung überaus dankbar. Menschlich ist er eine erfreuliche Erscheinung.

Erfüllt von dem ernsten Willen, dieses Schuljahr zur Kenntniserweiterung zu nützen, hat er sich in dem Lehrgang voll eingesetzt und dank seiner guten geistigen Veranlagung voll befriedigende Leistungen erzielt.

Lebenslauf

Hiermit bitte ich um Zulassung zur Sonderreifeprüfung im Ostertermin 1949.

Am 15. Februar 1925 wurde ich als zweiter Sohn des Zahnarztes Dr. Georg N. und seiner Ehefrau Dorothea N., geb. N., in Stralsund geboren. Ich bin katholischer Konfession. Ich habe noch vier Geschwister.

Meine Jugend verbrachte ich in meinem Elternhaus. Dadurch, daß meine Eltern finanziell sehr gut gestellt waren, war sie sehr sorglos. Durch das Zusammenleben mit meinen Geschwistern wurde in mir schon früh der Sinn für Rücksichtnahme und gegenseitige Hilfe erweckt. Trotz großer Strenge ließen meine Eltern mir viel Freiheit.

Nach vierjährigem Besuch der Volksschule wurde ich Ostern 1935 in das städtische Gymnasium in Stralsund aufgenommen. In diesem Jahre bezogen wir auch ein Eigenheim am Rande der Stadt. Durch die ländliche Umgebung wurde die Liebe zur Natur in mir geweckt und durch meine Eltern, die sehr naturverbunden sind, noch mehr bestärkt. Meine Ferien verbrachte ich meistens bei Bekannten auf dem Lande. So wurde die Natur mir schon früh Lebenselement. In ihr fand ich stets Erholung und den Ausgleich zur geistigen Arbeit.

Mit zehn Jahren erhielt ich Geigenunterricht. Durch die Anleitungen meines Vaters wurde Musik zu dem zunächst bedeutendsten Faktor für meine geistige Entwicklung. Ich bekam durch sie Gefühl für alles Schöne, und sie gab mir die Möglichkeit, meinen Empfindungen Ausdruck zu geben und manchen Zwiespalt im Inneren auszugleichen.

Durch die Einberufung meines Vaters bei Kriegsbeginn war meine Mutter sehr an die Praxis gebunden. So hatte sie nur wenig Zeit für uns Kinder. In den wenigen Stunden, die sie uns widmen konnte, bemühte sie sich, mir den Weg der Selbsterziehung zu weisen. Aber schon ihr Leben, das ein Beispiel christlicher Nächstenliebe und Pflichtauffassung war, zeigte mir den Weg, den ich gehen mußte. So waren Worte oft nicht nötig, mir die Richtung meines Handelns zu weisen.

Da infolge der Kriegsverhältnisse der Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern ausfiel, habe ich mich darin selbst weitergebildet. Schon damals stand für mich fest, später Landwirtschaft zu studieren.

Als ich im Mai 1943 den Gestellungsbefehl zum RAD erhielt, wurde mir die Versetzung in die Klasse 8 und der Reifevermerk zuerkannt.

Nach dreimonatiger Arbeitsdienstzeit wurde ich zu den Panzergrenadieren eingezogen. Nach Frontbewährung und Kriegsschule übernahm ich Anfang des Jahres 1945 als Leutnant eine Kompanie. Als ich diese Kompanie öfters zu sinnlosen Einsätzen führen musste, wurde mir voll bewußt, welch ein Verbrechen damals am deutschen Volke geschah, und für welche Wahnidee ich mich eingesetzt hatte. Damals begann die entscheidende Wandlung in mir. Den Glauben an den Nationalsozialismus hatte ich verloren. Aber auch der Zweifel an den guten Kern in jedem Menschen wurde in mir wach. Ich lernte hier zum ersten Mal die Wertunterschiede unter den Menschen kennen und begann, sie zu beobachten und mir ein Urteil über sie zu bilden. Je mehr ich aber die Menschen erkannte, desto mehr schloß ich mich von ihnen ab. Am liebsten war ich für mich alleine und suchte in meiner Freizeit Erholung in der Natur oder, sofern es möglich war, in einer Kirche Trost, denn ich erkannte, daß mir nur der Glaube Halt geben konnte in dem Chaos, das mich umgab.

Als der Krieg zu Ende ging, gelang es mir, der Gefangenschaft zu entgehen und meine Heimat zu erreichen.

Trotz der schlechten Aussichten, die für die Landwirtschaft in der russischen Besatzungszone bestanden und trotz der Möglichkeit, nach einem Studium der Zahnmedizin die Praxis meines Vaters zu übernehmen, bleib ich meinem Vorsatz treu und begann eine landwirtschaftliche Lehre; denn dieser Beruf entsprach meinen Neigungen.

In der Folgezeit bemühte ich mich, ein festes Urteil zu bekommen und ging mit Ernst an die Selbsterziehung. Ich erkannte, daß nicht der sichtbare Erfolg, sondern schon der Wille und die ernste Bemühung den Menschen wertvoll machen, und daß mit der Reife des inneren Menschen auch alle Fortschritte auf anderen Gebieten verbunden sind.

Im Januar 1946 mußte ich meine Heimat verlassen, um der Festnahme durch die Russen zu entgehen. Durch einen Onkel erhielt ich in Brühl b. Köln eine Lehrstelle in einer Baumschule. Da mir diese Arbeit mehr zusagte als in der Landwirtschaft, entschloß ich mich, Gartengestaltung als meinen Beruf zu erwählen. Ich sehe darin eine Lebensaufgabe, die Natur so zu gestalten, daß abgearbeitete Menschen in ihr Ruhe und Erholung finden können.

Die nötigen Kenntnisse für den Beruf erwarb ich mir durch eigene Arbeit und festigte sie dadurch, daß ich den Lehrlingen der eigenen und einiger anderen Baumschulen Unterricht in den gartenbaulichen Fächern gab.

Ostern 1948 legte ich die Gärtnergehilfsprüfung ab, die ich mit „sehr gut" bestand.

Da sich mein Vater noch in russischer Gefangenschaft befand, hatte ich von meiner Mutter keine Unterstützung zu erwarten. Kurz vor Ende meiner Lehrzeit lernte ich einen Gärtner kennen, der sich, als er meine Lage erfuhr, bereit erklärte, mein Studium zu finanzieren. So war ich jetzt in der Lage, das Studium zu beginnen, und meldete mich zum Sonderlehrgang am staatlichen Dreikönigsgymnasium in Köln.

Wenn durch den Sonderlehrgang auch die eigentliche Berufsausbildung unterbrochen wird, so empfinde ich den Lehrgang doch als einen sehr großen Gewinn für mich. Ich habe die großen Lücken im Wissen immer als sehr beschämend angesehen. Leider kann ich mich der Schule nicht so widmen, wie ich es gerne möchte, da ich an vielen Tagen in der Gärtnerei mitarbeiten muß und gezwungen bin, durch Nebenarbeiten mir Geld für die nötigsten Anschaffungen zu verdienen. Trotzdem gibt mir der Lehrgang mehr als meine ganze Schulzeit in Stralsund. Neben der Erweiterung des Wissens sind mir viele Fragen, die mir bisher unlösbar waren, beantwortet worden. Mein Blick wurde erweitert, so daß ich in der Lage bin selbständig neue Probleme aufzugreifen und weiterzuverarbeiten.

Nach Beendigung des Lehrgangs werde ich in Bonn bis zur Eröffnung der Fakultät für Gartenbau Landwirtschaft studieren. Das Studium werde ich durch Arbeit in der Obstplantage eines Bekannten finanzieren können, so daß ich nicht mehr auf fremde Hilfe angewiesen bin, wie im Augenblick.

In das Zeugnis der Reife bitte ich einen Vermerk über mein Religionsbekenntnis aufzunehmen.