Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 22. Juni 1940

22. Juni 1940

Liebste Elsbeth!

Denk' Dir nur mal. Ich bin heute zum Unteroffizier befördert worden. Nun bin ich der jüngste Uffz. in der Kompanie, der einzige, der nicht im Weltkrieg gedient hat. Gefreut hat es mich doch. Morgen rücken wir wieder 160 km weiter südlich. Wann wird es nun wieder weitergehen oder aufhören? -

Aber das ist ja alles egal, wir haben uns ja lieb und da kann ja alles nichts dran machen. Auf jeden Fall dauert es nicht mehr lange und dann, ja dann machen wir unsere Reise.

Vorige Nacht kamen in unserem Dorf wieder eine Menge Flüchtlinge an. Sie waren gerade 8 Tage fortgewesen. Unteroffiziere, die in den Betten schliefen, mußten noch nachts räumen. Eine Frau war dabei, die in diesen 8 Tagen ein Kindchen geboren hatte. So ist, außer dem Schreck­lichen, was man überall sehen muß, auch manches andere Interessante. Es ist nur schade, daß ich kein Französisch kann. Man steht dann manchmal mit den Franzosen da und versucht, sich anstatt mit dem Munde, mit Armen und Gesichterschneiden zu verständigen.

Ich bin jetzt bei diesem Brief schon 8mal abgerufen worden, zuletzt war die Lehrerin aus dem Dorf hier und bat den Chef um die übliche Bescheinigung, daß nach Waffen durchsucht worden sei. Es ist eine gut aussehende, energische Französin, bekleidet mit einer Kittelschürze und ein paar Schlappen. Sie entschuldigt sich bei dem Chef und sagt, das wäre

das Einzige an Kleidern, das sie noch hätte. Alles andere hätte sie nicht mehr bei ihrer Rückkehr vorgefunden. Und jetzt bekommt sie für die Bevölkerung von uns noch Nudeln, Reis, Fleischkonserven und andere Lebensmittel. Zwei Pferdekarren voll. Froh und mit der Gewißheit, daß der Deutsche doch das Gegenteil von einem Barbaren ist, zieht sie davon. Auch 2 Fässer Wein bekommt sie noch. Und nun höre ich schon zum neuntenmal: „Unteroffizier Ließem soll heraufkommen". An solchen Marschtagen ist der Teufel los.

Elsbethchen, süßes, kleines, liebes Frauchen. Es hat kein Zweck mehr, weiterzuschreiben, sonst geht der Brief heute nicht mehr ab. So sage ich Dir denn „Auf Wiedersehen" und grüße Dich und Dorotheechen ganz, ganz herzlich. Ich gebe Dir einen festen Kuß und halte Dich ganz fest lieb. Ich bin immer Dein

treuer Hannes.

 

Herzlichen Glückwunsch Frau Unteroffizier!

Viele Grüße M. Mergen