Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 12. Januar 1941

12. Januar 1941

Meine liebe, liebe Elsbeth!

Eben bin ich vom „Buchappell“ zurückgekommen, wo wir die Bücher ausgeteilt haben. Es waren wirklich schöne Sachen darunter, man kann wohl sagen der allergrößte Teil.

Ich habe mir natürlich schon vorher ein schönes herausgesucht (an der Quelle saß der Knabe) und zwar „Der Nackte Mann“, ein historischer Roman von dem uns aus dem „Der Schleier“ bekannten Emil Strauß. Nun haben wir wieder ein Buch mehr.

Und nun zuerst zu Deinen beiden letzten Briefen vom 3. und 6. Januar.

Was mich am meisten erleichtert hat, kannst Du Dir denken. Wie froh ich bin, daß wir nichts zu „befürchten“ haben, kannst Du Dir denken. Ich hätte es mir nie verziehen und wie hätte ich den Eltern noch ob solcher Rücksichtslosigkeit noch in die Augen sehen können. Vielleicht hätten sie mir nichts gesagt, aber die Gedanken hätte ich ja lesen können. Es ist ja komisch; die Rücksichtslosigkeit ist ja nun doch tatsächlich dagewesen, aber . . . ach, es ist ja jetzt egal, ich bin so froh, daß der Gedanke mich nicht mehr so quält. Und nun Schluß davon. Aber, weshalb liegt Liebe und Schmerz (vielleicht sogar der Tod) so nahe zusammen? Und wie sind die Gesetze so furchtbar hart?

Ich stelle mir im Geiste Dorotheechen als kleines Schulmädel vor, Schürzchenzerreißend, milchtrinkend, spielend und raufend und werde dabei ganz verliebt in unser Kindchen. Dieser Zuckerbengel.

Heute sah ich übrigens auf der Straße zwei Jungen im Alter von etwa 8 Jahren, die feste Zigaretten rauchten. Nicht etwa pafften sie, nein, sie zogen den Rauch durch die Lunge wie ein Alter. Und kein Mensch findet etwas dabei.

Übrigens, hättest Du keine Lust nach dem Krieg nach hier zu ziehn, ich meine, wegen der Miete. Die monatl. Miete für ein nach franz. Ansicht einigermaßen nettes Haus beträgt 100,- Ffr – 5,- RM, für ein Wohn Haus (nicht nur eine Wohnung), wie sie die Arbeiter hier bewohnen, wo ich allerdings nicht abgemalt sein möchte, sag und schreibe 2,- Mark (40,- Ffr). Einfach mittelalterisch, nicht wahr?

Aber auch anderes ist hier mittelalterisch. Z. B. ist ein Mann bei der Mairie. Er könnte befördert werden mit einer Gehaltserhöhung von 360,- Ffr. monatlich, wenn die Frau die Freundin des Bürgermeisters würde. Eine andere Frau, deren Mann erwerbslos ist konnte Arbeit bekommen, wenn sie mit dem Chef eine Nacht zusammen verbringen würde. (Sie hat die Stelle bekommen.) Der Butterhändler sagte zu einer Geschäftsfrau, wenn sie seine Freundin würde, könnte er ihr mehr Butter und ohne Transportkosten geben, wenn sie usw.

Mein Kamerad, (der die Frau „gut kennt“) sagte, sie solle sich doch bei der Polizei beschweren. Sie erklärte ihm nun folgendes: Ich komme dann zum Kommissar, der hört mich geduldig an und verspricht, die Sache zu prüfen. Der Kommissar „lädt“ dann den

Butterhändler. Der Butterhändler drückt ihm bei seinem Erscheinen die Hand und in der Hand ist ein 100,- Ffr.-Schein. Er erklärt die Sache als gelogen und erzählt dem Kommissar etwas. Die Frau wird wieder vorgeladen, bekommt eine Arreststrafe oder Geldstrafe oder beides, von der sie sich nun höchstens dadurch befreien kann, wenn sie mit dem Kommissar usw. So geht das bis in die ganze franz. Welt, Politik usw. hinauf. Die allermeisten (mein Kamerad sagt, bestimmt 80 %) Ehemänner haben eine Freundin und die Frauen einen Freund. Aber selten, daß dies heimlich geschieht, sondern im beiderseitigen Einverständnis.

Kein Wunder, daß ein solch moralisch tiefstehender Staat keinen Krieg gewinnen kann.

Aber nun genug davon.

Liebe Elsbeth, Du bleibst immer meine einzige und meine Allerbeste. Ich küsse Dich ganz innig und denke an Dich immer in Liebe und Treue
Dein Hannes.