Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 10. Juni 1940

10. Juni 1940

Meine Allerliebste!

Gerade komme ich wieder vom Schwimmen. Die Sonne brennt unbarmherzig vom Himmel und das Wasser tut einem wirklich gut. Zum Strandbad bin ich hin und zurück an der Maas vorbei­gegangen. Außerhalb der Stadt bietet sie ein so friedliches und sommerliches Bild, daß man gar nicht an Krieg denkt. Das Wasser fließt ruhig, Libellen, Schmetterlinge und Vögel ziehen da­rüber und im Wasser sieht man eine Unzahl Fische sich tummeln. Aber in der Nähe der Stadt ändert sich das Bild. Sämtliche Brücken (bis auf eine) liegen zertrümmert im Fluß. Viele Schlepp­kähne sind gesunken und ragen nur noch mit den hohen Teilen heraus. Die anliegenden Häuser liegen in Trümmer. Über die in aller Eile von den Brückenpionieren aufgeschlagenen Not­brücken ziehen unablässig motorisierte Kolonnen und Transporte. Es ist fast so, als ob die Kette überhaupt nicht abrisse. Immer weiter und immer weiter, Soldaten, Munition, Geschütze usw. Unsere Schreibstube liegt, wie ich Dir, ich glaub', schon einmal schrieb, im „Hotel du Ville" (Rathaus) im 2. Stock. Aus dem Fenster heraus habe ich einen schönen Blick auf den Marktplatz. Er ist groß und viereckig. In der Mitte steht ein Musikpavillon, oder so was Ähnliches. Er ist rund, hat lediglich eine schmiedeeiserne Brüstung und ein Dach. Dahinter sind verschiedene Gestänge. Anscheinend wird da sonst, wenn Markt ist, „Markisenstoff" zum Schutz gegen Sonne und Regen drübergespannt. Auf der rechten Seite steht da eine schöne gotische Kirche und die andern Seiten sind kleine alte Geschäftshäuser

und Privathäuser. Alle sind sie aber sehr schmut­zig und die Geschäftshäuser sind von oben bis unten bunt beschriftet. Da kann man für die Kleinwirtschaften die hochtrabendsten Namen finden wie: Cafe du Nord, Cafe de Paris, Grand-Bar usw. — Und alles starrt von Schmutz.

Ich möchte gern etwas mehr knipsen, aber mir fehlen die Filme. Vielleicht schickst Du mir mal zwei (17°-scheiner). Ich glaube nicht, daß sie über 250 Gramm wiegen.

Gestern war hier etwas ganz Tolles. Wir hatten 1200 Zigaretten bekommen, die nun an die Leute verkauft werden sollten. Es waren nun für jeden nicht ganz fünf Stück. Aber ich sage Dir, geschlagen haben sie sich bald darum.

Was macht Dorotheechen? Muß sie mit Dir noch oft nachts in den Keller und schläft sie da auch weiter? Ich bin ganz traurig darüber, daß ich seit dem Brief vom 27. Mai immer noch keine Nachricht erhalten habe. Aber ich weiß ja, daß das an der Feldpost liegt, denn mein süßes Frauchen würde mich doch gewiß nicht so lange warten lassen. Und so hoffe ich denn von einem auf den andern Tag auf einen besonders lieben Brief von Dir.

Und nun gebe ich Dir noch einen besonders herzlichen Kuß und drücke Dich ganz, ganz fest an mich. Ich bin immer

Dein treuer Hannes