Johannes Ließem an seine Frau Elsbeth, 16. Oktober 1943

16. Oktober 1943

Meine liebe, liebe Elsbeth!

Mit Rumm, Rumm, geht der Brief an. Aber trotzdem will ich ihn mit ein paar schönen, besinnlichen Minuten beginnen, die ich vorgestern abend hatte. Ich lag einen Tag mit Angina (leicht) in der Unterkunft, und hörte mir an, wie die Granaten über unser Haus herüberpfiffen und die Einschläge. Kampmann tat mir leid. Er hatte an diesem Tag noch meine Fahrten mitzumachen. Als ich so schön ruhig lag, nur von den eben geschilderten hübschen Geräuschen so halb in Schlaf gesummt, tönt auf einmal eine Geige wunderbar. Und zwar hörte ich das „Solveig-Lied“ aus Per Gynt. Zeller, Obergefreiter, spielte es so mit Liebe und Andacht, wie es sicher nur ein begeisterter Künstler tun kann, der nach langer Zeit irgendwo sein Lieblingsinstrument gefunden hat. Ich habe so mit Andacht gelauscht und war froh, daß er nach diesem einen Lied Schluß machte. Es war so etwas Einmaliges.

Aber nun, Du armer Moritz, wirst sicher denken, der Hannes läßt mich mit seiner Schreiberei ganz im Stich. Ich kann Dir aber nur sagen, daß ich kaum noch zum Essen, geschweige denn zum Schlafen gekommen bin in der letzten Woche. Zweimal habe ich eine ganze Nacht durchgeschlafen (d.h. durchgelegen,

denn das Durchschlafen gestattet erstens der Durchfall und zweitens die unheimlich vielen Flöhe nicht.

17. 10. 43.

Soweit kam ich gestern abend und dann gings die Nacht und den heutigen Tag wieder durch. Aber Spaß hat die Arbeit gemacht. 2 Wochen haben wir einen größeren Abschnitt „vorbereitet“ und diese Nacht haben wir, als die letzten Panzer zurück waren, d.h., als die Letzten durch waren, hinter diesen angefangen die vorbereiteten Sachen zu sprengen. Das ist der schöne Pionierdienst. Rumms, geht eine Brücke mit lauter Detonation in die Luft, wird eine Straße durch eine riesige Trichtersprengung aufgerissen, Durchlässe gesprengt. Umgehungen durch Bäume verlegt. Noch weitere Umgehungen durch Minen gesperrt. Häuser über die Straße geworfen. Städtchen haben wir angezündet und verbrannt. Keine Strohmiete auf dem Land, kein Haus bleibt vor dem Sprengmittel, vor den Flammen verschont. Nichts, wo der Tommy irgendwie Unterkunft in der Regenzeit nehmen könnte, kein Stroh, wo er sich drauf legen könnte, findet er mehr. Brunnen wurden gesprengt usw. Leid tat es einem in den Städtchen um die Stoff- und Schuhgeschäfte usw. Was wir da vernichtet haben!!!

Alte Patrizierhäuser, wunderbar gebaut, mit Marmorstiegen und -boden, Brokatvorhängen, fabelhaften Möbeln — ach, und die schönen ital. Ölgemälde. Drei Kommandos: „Fertig zum Zünden“ – „Zünden“ – „Brennt!“,

eifriges Getrappel des davoneilenden Zündtrupps, kurze Pause - - - - Krrrach. Das Haus stand.

In einer dem einen Städtchen hatten wir etwas Seltsames entdeckt. Die Stadt stand im Berghang (Bimsgestein.) Nachdem die Stadt fast eine Woche hindurch von einem Zug „fertiggemacht“ wurde, stellte der Zugführer, Feldw. Back, fest, daß es in etwa 50 – 100 m unter der Erde eine zweite Stadt gab, mit Häusern, Straßen, Plätzen, Häuser mit Möbeln eingerichtet und von den geflüchteten Bewohnern bewohnt, die ihre dringendsten Kostbarkeiten dort geborgen hatten, elektr. Licht, elektr. Straßenbeleuchtung. Natürlich ist das E-Werk ja kaputt. – Nun begann das Vernichtungswerk von Neuem. Ich habe mich nachher einmal bei Einwohnern erkundigt. Lange, lange Jahrhunderte besteht diese unterirdische Stadt. Anscheinend noch aus der Römerzeit Sie ist etwas größer, als die „überirdische“ Stadt. Übrigens ist es Befehl: Keine Kirche, kein Kloster darf zerstört werden.

18.10.43.

Soweit kam ich gestern, als ein Funkspruch ankam: „sofort Mast bei km . . . . sprengen“. Die Arie war dort in Stellung gegangen und ein großer Mast aus Eisen für eine elektr. Überlandleitung stand in der Schußrichtung. Die Züge waren weg und so bin ich eben mit meinem Putzer hingefahren und habe ihn umgelegt. Der Oblt.

von der Arie wollte ihn nach Möglichkeit nicht über den Weg geworfen haben. Als ich ihm sagte, ich könne ihm fast auf den Meter genau sagen, wie er fallen würde, war er baff. Er fiel dann auch nachher genau so.

Als ich zurückkam, wartete noch andere Arbeit auf mich. Und darnach habe ich einmal tief und fest geschlafen. Einmal des nachts wurde ich wach, als die Arie ein heftiges Gebummere loslies und zwar lagen die Einschläge ziemlich dicht hier bei uns. Die Mauern bebten. Aber schnell war ich wieder selig entschlummert. Und wie habe ich geschlafen. Herrlich. Zum Schlafen noch Folgendes. Mein Bett kann ich natürlich nicht mehr mitschleppen. So liegen wir denn immer auf Steinboden, eine Decke unter eine über uns. Stroh nehmen wir nicht, da wir dann vor Flöhen überhaupt nicht mehr aus noch ein wissen. Ich habe am linken Oberschenkel allein über 100 Stiche. Aber wenn man Tag und Nacht unterwegs ist, schläft man trotz Steinboden, trotz Flöhen usw., fest, wenn man nur mal schlafen kann. Außerdem schlafen wir nur noch in den Kleidern. Hier in der Nähe stehen unsere Nebelwerfer.

Es ist Musik für uns, wenn sie, wie jetzt, ihre gefährlichen Geschosse in einem fort losorgeln. Mit Kampmann verbindet mich eine so herzliche Kameradschaft, der Einsatz ist ein so interessanter, daß die viele, viele Arbeit einem richtig Spaß macht. Außerdem sind von den alten Leuten der 1. Kp., wie

sie damals ausrückte immer noch eine Anzahl übrig geblieben, sodaß ich mich ganz wohl fühle. Du brauchst mich also nicht um gewisser Strapazen wegen zu bedauern, sondern freue Dich, daß ich eine befriedigende Tätigkeit und gute Umgebung gefunden habe. Fehlt einem jetzt irgendeine Kleinigkeit, hat man‘s gut. Man braucht nur ins nächste Haus zu gehen und holt. Natürlich darf das nicht in Plündern ausarten. Aber z.B. wasche ich mich im Augenblick mit einer Seife; da kann man den Hut vor abnehmen.

Aber, jetzt habe ich schon seitenlang von mir gequasselt. Wie ist es zu Hause? Was macht Dorotheechen? Ich sorge mich wirklich um das Kind. Gerade vor der Lunge habe ich solche Angst. Könnte ich doch einen Bruchteil von dem Überfluß an Fett, den wir haben, Euch zukommen lassen. In den Häusern jagen wir mit denselben Schinken und Speckseiten in die Luft, Schweineblasen mit Schmalz gefüllt. Natürlich tun wir das nur da, wo‘s eilig sein muß. Aber ich denke, was würde man in der Heimat für einen solchen Schinken, oder eine Speckseite, oder eine solche Schweineblase geben. Laß das Kind aber dauernd jetzt unter ärztlicher Kontrolle. Vielleicht hat es die Empfindlichkeit auf der Lunge von mir. Ich habe ja in meiner Kindheit auch genug damit zu tun gehabt.

Ich danke Dir auch für Deine letzten Briefe. Eine ganz besondere Freude hat mir das Bildchen von Dorotheechen bereitet. Auf dem Bild ist es so richtig, was ich mir unter einem „Sonnenscheinchen“ vorstelle. So zart und innig, glücklich und froh, sauber und rein und geliebt und gepflegt sieht sie darauf aus, daß ich mich garnicht satt sehen kann. Sie ist eben von uns Beiden. Ach, ich weiß manchmal nicht, was ich vor Liebe zu Dir und Dorotheechen machen und anstellen soll. Vorerst kann ich mich nur damit begnügen, mit Liebe und Freude an Euch zu denken und Dich jetzt so nach Herzenslust – leider nur im Geiste – zu küssen und liebzuhalten. Ich bin immer
Dein Hannes.